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Missing Link

19 / 04 / - 28 / 06 / 2002
Ausstellung / Diskussion

Überblick und Dokumentation der Arbeiten
der Wiener Arbeitsgemeinschaft “Missing Link” (1970-80))

Treffen auf dem Feld
Aktionen bei Trausdorf, Sommer 1972




Abb.: AKTION V, Interaktion auf verschiedenen Ebenen

Arbeitsbericht Projekte 1970 – 72
Karl 365 (1971)
16. November: Eine Utopie in neun wirklichen Bildern (1972)
Treffen auf dem Feld (1972)
Via Nostalgia: Straßenarbeit (1972/73)
STtilleben Weltatrappe (1972/73)
Die andere Seite (1973)
Die verstoßene Stadt (1974)
Asyleum – Großes Hutobjekt (1976)
Via Trivialis Fünf Aspekte zur Straße
Wiener Studien
Comments in Architecture (1980)

Reviews

"Ordnung ist das halbe Leben“, sagt ein Sprichwort. Stimmt nicht, wird man erwidern – und mit Recht, denn Ordnung ist das ganze Leben. Zwischen Wiege und Bahre haben sich Berge von Ordnungen breitgemacht. Eine sehr unvollständige Aufzählung: Schulordnung, Hausordnung, Bauordnung, Straßenverkehrsordnung, Gewerbeordnung, Gesellschaftsordnung, Notstandsverordnung …

Robert Musil faszinierte der Gedanke, einen Menschen, eine Persönlichkeit nur unter Verwendung von Zitaten zu beschreiben, gleichsam wie ein Puzzle zusammenzusetzen. Genauso könnte man mit allen Formen, mit allen über- und untergeordneten Ordnungen verfahren, die menschliche Existenz ausmachen und schließlich ganz ersetzen: Soziales Sein als Summe aller Ordnungen (Regeln, Normen) für Verhalten und Dinge.

Benütze den Aufzug und denk nach, warum du im Lift immer so komische Gedanken hast. Entfalte an der Straßenbahnhaltestelle deine Zeitung und überlege, welchen Rolle sie eigentlich spielt. Betrachte die Verteilung der Sitz- und Stehplätze in der Tramway – warum sitzt du links vorne oder rechts hinten am Fenster lieber als in der Mitte rechts ? Das Gedränge auf den Gehsteigen ist unerträglich ? Setz deine Sonnenbrille auf, und du fühlst dich sicherer. Wenn das Telefon klingelt und die linke Hand den Hörer von der Gabel nimmt, was tut die rechte, wenn nichts zum Kritzeln zur Hand ist ? Wie eröffnet man ein Gespräch – mit einem Geschäftspartner, beim Rendezvous ? Das Anbieten von Zigaretten entspannt die Lage. Konzentriere dich auf das Ein- und Ausatmen des Rauches, und die Gedanken ordnen sich! Setz dich zu Tisch und schau, womit du deine Hände in der Zeit zwischen Suppe und Hauptgericht beschäftigen kannst. Spiele das Spiel, die Augen der Kellnerin einzufangen, und du brauchst nicht nach ihr zu rufen. Setz dich im trauten Heim bequem vor den Fernseher und beachte den tadellosen Sitz der Krawatte des Sprechers, und bevor du schlafen gehst, vergiß nicht, den Wecker zu stellen und die Hose über den Kleiderbügel zu hängen, denn, wie gesagt, Ordnung ist (mindestens) das halbe Leben.

Es geht also um die Regeln menschlichen Verhaltens, um die Verteilung der Rollen, um die Zuteilung von bestimmten Gegenständen (Räumen) zu bestimmten Tätigkeiten, um die kleinsten Einheiten von Ordnung, die selbst ganz banale Situationen durchsetzen. Jemand hat einmal gesagt: "Architektur ist Ordnung“. Im Fachjargon zergliedert sich dann Ordnung in Funktionen: Wohnen, Schlafen, Essen, Spielen, Arbeiten … Funktionen sind die Instrumente derjenigen, die menschliches Dasein auf geschlossene Abläufe festlegen und auf diese Weise in Grundriß, Aufriß und Schnitt (Detail) verplanen. Für die Unordnung wird kein Platz vorgesehen, es sei denn, sie funktioniert in geduldeter Außenseiterposition. Unordentlich ist alles, was den "natürlich“ gegebenen, zivilisierten Verhaltens- und Benützungsweisen zuwiderläuft. Unordnung (in der Haltung, im Benehmen, im Handeln) als In-Frage-Stellung des gesellschaftlichen Normensystems wird letztlich als krankhaft eingestuft. Dazupassen, nicht aus der Reihe treten ("in“ sein) wird so zum obersten Gebot. Werbung und "Bewusstseinsindustrie“ haben diese Zusammenhänge längst durchschaut und bedienen sich ihrer mit Perfektion.

Wollen wir zu einer nicht-normativen Gestaltung der Wirklichkeit gelangen, was vor allem heißt Handeln und verständige Kommunikation mit den anderen Subjekten im Gegensatz zu stilisiertem Rollenverhalten, wollen wir der Waren- und Dingwelt wieder ihren Platz zuweisen, was heißt, daß "Jonny Walker nicht mehr kommt“ und die "weite Welt“ nicht mehr mit Peter Stuyvesant identisch ist, wenn das unser Anliegen ist, müssen wir dahin gelangen, Funktionen und Ordnungen nicht als wertfrei und natürlich, sondern als Formen gesellschaftlichen Drucks zu begreifen; müssen wir menschliches Verhalten und Kommunikation in ihrer Abhängigkeit von den verschiedenen Schichten der Gesellschaft erkennen lernen und hier unsere Kritik ansetzen.

"Treffen auf dem Feld“, Aktionen und Ensembles.

Es wirken mit:
a) ein Tuch mit Zeichnung (menschl. Modulor)
b) Hände aus Gips
c) ein Stück Hose Aktion I: p)
d) eine Taschenuhr Aktion II: a) bis n)
e) Zigaretten und Zünder Aktion III: e)
f) Zeitungen Aktion IV: b) bis p)
g) ein Schlüsselbund Aktion V: p), r)
h) eine Puderdose Aktion VI: e), n)
i) Handschuhe Aktion VII: p), q)
j) eine Sonnenbrille Aktion VIII:
k) ein Kugelschreiber Aktion IX: p)
l) eine Geldbörse
m) Münzen
n) eine Wäscheleine
o) Eßbesteck, Gläser, Teller, Zahnstocher, Öffner, Aschenbecher
p) Tisch und Sessel
q) ein Fleischwolf
weiters:
r) ein Mann und eine Frau

Ein ursächlicher Bestandteil der Beziehungen zwischen Architektur (Kunst) einerseits und effektiver Umweltserfahrung und –gestaltung andererseits ist die Doppelfunktion des Menschen im Erkennen und Gestalten von Wirklichkeit. Aus dieser Sicht ergibt sich die Frage nach der Steuerung täglicher Lebensabläufe, die im ständigen Informationsaustausch der Menschen untereinander stattfindet, als Ausgangspunkt weiterer Überlegungen. Das Normensystem, dem diese Vorgänge unterliegen, leitet sich direkt aus den Grundstrukturen der jeweiligen Gesellschaft ab. Eine Entflechtung dieser Zusammenhänge kann dann sinnreich sein, wenn man berücksichtigt, dass Kommunikation immer gebunden ist an bestimmte schichtenspezifische Sozialisationsformen. Davon ausgehend, ist vorerst eine Untersuchung der Mechanismen der Bewusstseinsbildung notwendig, wenn wir nach möglichen Wegen der individuellen Identitätsbildung suchen.

Bewusstseinsbildung erfolgt an der Erfahrung individueller gesellschaftlicher – und durch die Medien (TV, Illustrierte, Kino …) produzierter klischierter Wirklichkeit. Die "Bewusstseinsindustrie“ liefert heute in zunehmendem Maß Ersatz für alltagssprachliche Kommunikation. Diese wird dadurch immer mehr auf instrumentelles Handeln reduziert. Als Vehikel institutionalisierter Öffentlichkeit präsentieren die Massenmedien Realität als einen fiktiven Bereich. Emissionsniveau und Rezeptionsniveau halten sich ständig im Gleichgewicht, in enger Verflechtung mit der Werbung erfolgt so die ununterbrochene Erneuerung des Kreislaufes unserer Konsumgesellschaft. In der extrem visuell orientierten westlichen Kultur ist die visuelle Struktur dieser Beziehungen dominant.

Ein Versuch, diese Problematik zu erweitern – in Hinsicht auf kontrolliertes Erfahren des alltäglichen sozialen Verhaltens – , bedarf noch einiger grundsätzlicher Überlegungen.

In der geschichtlichen Entwicklung des gesellschaftlichen Interessensausgleichs hat Architektur, hat gebaute Umwelt zweifellos ihre Bedeutung. Die Stelle der "epochaltypischen“ (J. Habermas) Polarität von Öffentlichkeit und Privatheit als strukturbildendes Element im Städtebau nehmen heute weitgehend geänderte Verhältnisse ein. Öffentlichkeit dient nicht mehr als Medium bürgerlicher Willensbildung, sondern verkümmert zusehends zum bloßen Präsentationsvehikel herrschender Interessen. Den Platz direkter urbaner Praxis nehmen längst die elektronischen Medien ein, vor allem, was die Verteilung und Forcierung von Konsumgütern betrifft. Die Austragung wirtschaftlicher Interessenskonflikte findet nicht mehr auf dem Marktplatz statt.

H. Marcuse definiert die moderne Industriegesellschaft als "durchgehende Identität der in ihr enthaltenen Gegensätze“. In ihr "…tendiert der technische Produktions- und Verwaltungsapparat dazu, in dem Maße Totalität zu werden, wie er nicht nur die gesellschaftlich notwendigen Bestätigungen, Fertigungen, Haltungen bestimmt, sondern auch die individuellen Bedürfnisse und Wünsche“.

Die anstelle Öffentlichkeit-Privatheit denkbare Polarität Arbeit – Freizeit erweist sich ebenfalls als unzulänglich. Beide Bereiche werden in ihrer Wechselwirkung mittelbar durch die Medien bzw. Freizeit- und Hobbyindustrien verwaltet und kontrolliert.

Städtebauliche Praxis, deren Leitbilder u. a. auf den Grundrechten "Freiheit, Gleichheit, Sicherheit“ fußen, bedarf einer dringenden Überprüfung ihrer Grundlagen. Marcuse: "Einmal institutionalisiert, teilen dieses Rechte und Freiheiten das Schicksal der Gesellschaft, zu deren integralem Bestandteil sie geworden waren. Der Erfolg hebt seine Voraussetzungen auf. In dem Maße wie Freiheit von Mangel, die konkrete Substanz aller Freiheit, zur realen Möglichkeit wird, verlieren die Freiheiten, die einer niedereren Stufe der Produktivität angehören, ihren früheren Inhalt.“

Welche Wertigkeiten haben nun die Rufe nach Machtbestimmung bei baulichen Prozessen … nach Architektur ohne Gestaltung? Eine Angleichung des Bauens an die Kontinuität und Undifferenziertheit der Produktions- und Konsumsphäre kommt an dem Problem der Ortlosigkeit und "Strukturdegeneration“ nicht vorbei: "Eindimensionale Architektur für eindimensionale Menschen?“

J. Jacobs zeigt in "Tod und Leben großer amerikanischer Städte“, in welchem Ausmaß (städtische) Umwelt erfahren, geprägt und wiedergestaltet (konstituiert) wird durch ein Geflecht visueller, alltagssprachlicher, nicht institutionalisierter menschlicher Kontakte.

Eine Untersuchung mit dem Ziel der Bewußtmachung dieser Verhaltensmuster könnte ein Ansatzpunkt kritischer Bewusstseinsbildung sein – als Vorgang, in dem ein Subjekt seine gesellschaftliche Identität erwirbt: Emanzipation – nicht bloß partielle Freiheit von der Sache -, die emotionale Beziehungen außerhalb normierten Rollenverhaltens einzugehen ermöglicht.

Erving Goffmanns ausführliche Beschäftigung mit diesem Thema in "Verhalten in sozialen Situationen“ bietet u.a. eine praktikable Grundlage, um die Zusammenhänge des Tagesablaufes, des Wohnens … in ihrem Engagementverlauf und –gehalt der beteiligten Person zu analysieren, wie auch die verwendeten Gegenstände und Raumverhältnisse auf die ihnen eigenen Funktionsgehalte zu untersuchen. So können einerseits die im Rahmen der Gesamt- bzw. Teilsituationen entstehenden "Gebrauchsqualitäten“ (Konditionen) faßbar werden, andererseits im Ansatz Planungskriterien entstehen, die über einfache funktionelle Zuordnung (von Gebrauchsgegenständen, Räumen zu Tätigkeiten) hinausgehen, bzw. sie in einen Bereich sensiblerer Dimensionen unterlaufen.

Die durchgängige Reglementierung von menschlichem Verhalten auch im nicht- bzw. vorinstitutionellen Raum ist heute hinlänglich belegt. Unser alltägliches Verhalten ( auf der Straße, im Restaurant, in der Tramway, im Aufzug …) das wir als banal, unmittelbar und selbstverständlich empfinden, erweist sich als disziplinierte, durch ständige interpersonelle Kontrolle abgesicherte Reaktion auf präformierte Situationen.

Der Hinweis auf die entlastende Wirkung, die ein routinemässiges Verwenden vorliegender Verhaltensmuster mit sich bringt, ist sicherlich berechtigt: je freier die Gesellschaft die Art regelt, in der Personen irgendwelche Ziele verfolgen, in umso größerem Umfang wird menschliche Substanz ständig beansprucht, umso mehr ist das zwischenmenschliche Verhalten von der elementaren Kommunikationsfähigkeit jedes einzelnen abhängig. Normiertes Verhalten als Einverständnis über Situationen versichert die Beteiligten andererseits wieder ständig ihrer Selbstidentität: wer wir sind, erfahren wir an der Reaktion des anderen, die wieder nur lesbar ist durch Übereinkommen und Bestätigung von Signalen, Sprach- und Dinggebrauch.

Die in den Aktionen "Treffen auf dem Feld“ verwendeten Requisiten sind eine Auswahl typischer Objekte, die feste, akzentuierte Bestandteile des Normenkodex darstellen. Betrachten wir die Art, in der zum Beispiel Werbung heute mit einem Großteil dieser Dinge verfährt: Utensilien, die durch geregelten Gebrauch als Hilfestellung im interpersonellen Verkehr dienen sollten, bieten Ersatz für fehlende soziale Kontakte an, werden zum Kontakterlebnis selbst. Artikel übernehme die Rolle von Partnern ("Der gute Partner für gute Partner heißt Gordon’s“ – Werbetext für Gin), ihr Konsum allein verbürgt für, ja ist schon Erfolg, Glück, Kontakt, Sex usw. selbst. (Vgl. die massive Werbung für Zigaretten und Uhren, … mit dem Phänomen, daß in unserer Gesellschaft jeder jederzeit das Recht hat, nach der Zeit und um Feuer zu fragen.)

Die Kritik an der Manipulation von Verhaltensweisen und von den in diese eingebundenen Objekten durch Werbung und Konsumverhalten muß sich letztendlich auf den Normenkodex selbst erstrecken: Inwieweit haben wir es hier mit Erscheinungen von Sinnentleerung und Verselbständigung zu tun, die umgekehrt wieder jede Manipulation begünstigen.

Dazu einige Beispiele:

Zigarette und Zahnstocher (Aktion III): Dinge, deren situationsgemäße Verwendung im Normenkodex verankert ist, Dinge, die untergeordneten Tätigkeiten zugeordnet sind (die, falls erforderlich, jederzeit unterbrochen werden können), die aber funktionsgemäß jedes für sich dem Benützer in jeder Situation eine gewisse Reserve, einen privaten "Freiraum“ sichern. Kombiniert verwendet, werden sie plötzlich zur dominanten Situation, deren Absurdheit auch auf die Einzelsituation zurückfällt.

Gebrauchsgegenstände bei Tisch (Aktion IV): warum spielt man mit dem Flaschenöffner, der Serviette … und nicht mit dem Messer ("Messer, Gabel, Schere, Licht …“)? Die funktionelle Reglementierung beim Essen ("Wie einer ißt, so ist er.“) scheint überhaupt eine der härtesten (vgl. nur die Rolle von Kindern bei Tisch) und typischsten (Aktion V) für unsere Gesellschaft zu sein.

Schlafen, als extremste Form von Privatheit, inmitten der wohlgeordneten (Nachtkastl, Schrank) Attribute gesellschaftlichen Seins (Öffentlichkeit) ist ein weiteres Phänomen dafür, wie "Privatheit als Freiheit von öffentlicher Kontrolle“ aufrechterhalten wird, um die totale soziale Kontrolle durch Werbung – Konsum zu verschleiern (Aktion II).

Die Überprüfung von Bedürfnissen jeder Art wird auf diese Weise völlig undurchführbar: Sekundärerlebnisse verwandeln sich in Primärerlebnisse, ersetzen diese. Ursache und Wirkung tauschen Platz, entziehen so der Kritikfähigkeit und Selbstbestimmung des einzelnen den Boden.

Planen für Bedürfnisse (Architektur), funktionelle Gestaltung (Design) und freie, reflektierende Gestaltung (künstlerische Tätigkeit), deren gemeinsame Voraussetzung die grundlegende Kenntnis sozialer, ja mikrosozialer Mechanismen darstellt, werden in diesem Zusammenhang ohne kritisches Verständnis der genannten Wirkungsweisen nicht mehr auskommen.

Aus: trausdorf 18 Untere Hauptstraße muhr köb missing link. Wien 1972. Katalog zur
Ausstellung.


Abb.:
1. Umwelt - Summe aller umgebenen Einflüsse
2. Kleidung, Verhalten, soziale Attribute - Normative Form der Kommunikation - Körpersprache
3. Normative Ordnung, kontrolliert deinen Schlaf
4. Soziales Sein - Summe aller Verhaltensnormen + Objekte

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