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Missing Link

19 / 04 / - 28 / 06 / 2002
Ausstellung / Diskussion

Überblick und Dokumentation der Arbeiten
der Wiener Arbeitsgemeinschaft “Missing Link” (1970-80)

Via Trivialis




Stadtbahnstation Gumpendorfer Strasse, Wien

Arbeitsbericht Projekte 1970 – 72
Karl 365 (1971)
16. November: Eine Utopie in neun wirklichen Bildern (1972)
Treffen auf dem Feld (1972)
Via Nostalgia: Straßenarbeit (1972/73)
STtilleben Weltatrappe (1972/73)
Die andere Seite (1973)
Die verstoßene Stadt (1974)
Asyleum – Großes Hutobjekt (1976)
Via Trivialis Fünf Aspekte zur Straße
Wiener Studien
Comments in Architecture (1980)

Reviews

Via Trivialis
Fünf Aspekte zur Strasse

Versuche, in den Spalten des Asphalts eine naturgeschützte
Blume anzupflanzen.
1

DER EINZELNE

ESSAY

Die Stufen hinauf waren heute frisch gewaschen. Vorbei an der Bassena. Arnold trat aus dem Dunkel des Souterrains durch das blendende Viereck des offenen Haustors 11-12. Vor 13-14 war ein Elferschießen der Hausmeisterkinder in Gang. Haben die eigentlich nie Schule? Die weißhaarige Frau im Erdgeschoßfenster sah zu wie jeden Tag. Arnold grüßte sie seit vier Monaten. Mit den Kindern konnte man wenigstens noch reden: "Was macht ihr mit der Kreidelinie über den Gehsteig?", fragte er und trat über die Grenze zwischen Wien und Paris. "Jeder, der vorbeikommt, muß zahlen!", sagten die zwei, die am Bordstein saßen. Er wandte sich nach rechts. Gegenüber hinter dem Zaun auf dem städtischen Sportplatz war Lärm und Bewegung. Mit Autobussen kamen aus entfernten Bezirken die Kinder zum Spielen hierher: Schaukel, Kreisel und Völkerball. An der Radiofabrik vorne wurde gerade nicht verladen. Einige Arbeiter standen in der Einfahrt. Einer von ihnen hatte Arnold früher mehrmals angesprochen, hatte ihn wohl mit dem früheren Mieter verwechselt. "So ein freundlicher Mensch" meinte die Mutter der Hausmeisterin. Ein Taxi parkte an der Ecke. Zwei Männer beugten sich über die Funksprechanlage. Die Stimme der Sprecherin in der Zentrale meldete sich in kurzen Abständen. Arnold stieß sich am ersten Hydranten ab und überquerte die Straße. Auf dem Weg zur Straßenbahn ging er die Breitseite des Sportplatzes entlang und sah durch die Hecke. Die Straßenkehrer waren heute erst am gegenüberliegenden Ende des Platzes. Wieder eine Linie über den Gehsteig. Wien und ... ? Der andere Name war nicht mehr lesbar. Wahrscheinlich von gestern. Der zweite Hydrant an der Einmündung der Querstraße und der dritte weiter vorne markierten dieses Wegstück, wenn nicht Leute entgegenkamen, die ablenkten. Er streifte kurz die von der Sonne gewärmte Eisenstange der Halteverbotstafel. Der Kaugummiautomat an der Mauer ("thank you") war scheinbar frisch gefüllt. Vier Kugeln pro Schilling. Aber ein Eloxalring war doch kaum je dabei. Durch die Reihe parkender Autos trat er auf die zu jeder Tageszeit stark frequentierte Querstraße - er kannte ihren Namen - und wechselte mit schnellen Schritten knapp vor einem von rechts kommenden Auto routiniert auf die andere Seite. Er war zufrieden mit der Übersicht und Elastizität, die er eben gezeigt hatte. In den großen Scheiben der Möbelauslage musterte er sein Spiegelbild, bevor er um die Ecke bog. An der Bushaltestelle warteten diesmal nur wenige. Es war ihm immer unangenehm, den Blickverhau der Wartenden, die hier oft in großer Anzahl standen, zu kreuzen. Er ging dann am liebsten immer ganz an der Gehsteigkante. In solchen Momenten, wenn er die Augen anderer vermied und die seinen senkte und irgendwie sogar nach innen sah, fühlte er im Kopf dieselbe Leere die seine Augen füllte. Heute konnte er ruhig auf die Spucke am Asphalt achten. Der Handwagen der Kohlenhändlerin stand neben der Eisentür. Arnold hatte im Winter dort Holz gekauft und die Frau nach einer Transportmöglichkeit gefragt. "Nein, einen Wagen habe ich leider nicht." Damals hatte er noch nicht gewußt, wem der Handwagen gehörte. Seit zwei Wochen steckte in der Kellertür jetzt ein Zettel: "Wegen Krankheit geschlossen." Auch beim Friseur hing ein Zettel. "An meine p.t. Kunden! Ich danke hiermit..." Arnold war dort zweimal gewesen und hatte die seltsam Kühle, weiche Haut der Hände, wie sie manchmal an alten Männern zu sehen ist, im Spiegel bei der Handhabung der kalten Schere und des temperaturlosen Plastikkamms beobachtet. Die Häuser dieser Gasse stammten aus einer Zeit, da die Straße noch nicht asphaltiert war. Er schloß das aus den eiserner Kotabstreifern und den Haltegriffen darüber in den Toreinfahrten. Rechts kam erst die kalte Luft aus der Kirchentüre, links dann von der anderen Seite der Wirtshausgeruch. Vor dem Eckeingang dort lag immer besonders viel Taubendreck. Schon kam er zur Brücke, wo die Tramway hielt. Hier häuften sich die in den Asphalt eingelassenen Gußeisendeckel, Wasseranschlußzeichen, Kabelmarkierungen. Der Beamte im Telegrafenamt hatte bedauert: "Vor 1974 werden sie keinen Anschluß erhalten. Ein neues Kabel wird erst beim Umbau der Brücke verlegt. In ihrem Viertel warten ohnehin 25o Leute auf einen Telefonanschluß. Arnold mußte zum Telefonieren also immer bis hierher gehen. In der anderen Richtung wäre eine Telefonzelle wesentlich näher gewesen, doch war an der Brücke viel mehr Leben. Das Warten war keineswegs unangenehm und man konnte auch immer "Bitte" und "Danke" austauschen, wenn man sich die Klinke in die Hand gab. In den alten Fernsprechautomaten waren, besonders morgens, immer wieder Speisereste und anderer Abfall gelegen, einmal zwei Fischskelette, erinnerte sich Arnold. Jetzt waren drei neue Zellen da, sie standen ganz frei und übersichtlich, aber wenn die Sonne den ganzen Vormittag draufschien, war es drinnen nicht sehr angenehm.

Er lehnte sich ans Brückengeländer und sah auf den Zeitungsverkäufer. An warmen Sonntagen stand dort nachmittags ein Blinder und bot Lose an. Im Winter ein Maronibrater. Er las: "Bitte haltet die Straßen rein" und "Hochspannung, Vorsicht Lebensgefahr". Er dachte, er werde bei der Heimfahrt eine Haltestelle weiter oben aussteigen, den Fahrschein in einen Mistkübel an einem Zeichen für Autofahrer werfen und die Straße etwas unterhalb der drei Ampeln überqueren, die nie gleichzeitig grün zeigten und jede extra passiert werden mußten, dann durch die Allee heimgehen und dort vielleicht wieder eine Bodenzeichnung vom Tempelhüpfen der Schulmädchen sehen.


DIE ÖKONOMIE

Jeden von uns umgibt seine eigene Umwelt, die sich quantitativ oft sehr wesentlich von der des anderen unterscheidet. Die Unterscheidung liegt in der Aufnahmebereitschaft und -fähigkeit, liegt in der Auswahl der Reize, deren Summe jeweils wieder ziemlich konstant ist. Vergleichen wir nun einen mäßigen Autolenker, der mit der Aufnahme und Verarbeitung der für seine Fortbewegung wichtigen Signale völlig ausgelastet ist, und seinen Beifahrer, der zwar ebenfalls "mitfährt", der aber doch auch die vorbeifliegenden Werbetafeln usw. registriert. Je geübter der Fahrer, um so ökonomischer kann er seine Aufmerksamkeit einsetzen, umso mehr Spielraum lassen seine Reflexe für andere Reize. Ein Paradebeispiel für verschiedene Umweltquantitäten sind der Bergführer und seine Touristen im Gebirge. Analog können wir Hausfrauen beim Einkauf, Touristen in der Stadt, Kinder auf dem Schulweg oder Arbeiter bei der Heimfahrt vergleichen. Auch die verschiedene Geschwindigkeit ergibt Differenzierungen: der Erlebnisbereich ist bei 50 kmh oder 80 kmh, am vorderen Fenster im Stock eines Stockautobusses ein ganz anderer als bei 4 kmh am Trottoir. Der assoziative Freiraum scheint für den Fußgänger am größten zu sein, da seine Fortbewegung und Orientierung am wenigsten Energie bindet. Doch auch hier hat eine Angleichung an die Bewegungsintensität des Autoverkehrs Beschleunigungen und spezifische Reaktion hervorgerufen. Vergegenwärtigen wir uns nur die Fähigkeit, die Geschwindigkeit eines links herannahenden Autos mit der eigenen Schnelligkeit abzuschätzen, zwanzig Meter vor einem mit 50 kmh fahrenden Fahrzeug die Straße zu überqueren, in der Mitte stehenzubleiben und rechts denselben Vorgang mit einem kurzen Blick zu erfassen! In den verkehrsreichen Innenstädten gehen die Leute (auch alte) schneller als in den Außenbezirken, auch ist dort viel weniger Spucke am Gehsteig, was vielleicht in anderen Umgangsformen seinen Grund hat, oder aber im Streß der schnelleren Geschwindigkeit und Dichte, der ein "müßiges" Ausspucken nicht gestattet.

Robert Musil schreibt vor 1930, was sein Romanheld Ulrich 1913 für die Zukunft erwartet: "Luft und Erde bilden einen Ameisenbau, von den Stockwerken der Verkehrsstraßen durchzogen. Luftzüge, Erdzüge, Untererdzüge, Rohrpostmenschensendungen, Kraftwagenketten rasen horizontal, Schnellaufzüge pumpen vertikal Menschenmassen von einer Verkehrsebene in die andere, man springt an den Knotenpunkten von einem Bewegungsapparat in den anderen, wird von deren Rhythmus, der zwischen zwei losdonnernden Geschwindigkeiten eine Synkope, eine Pause, eine kleine Kluft von zwanzig Sekunden macht, ohne Überlegung angesaugt und hineingerissen, spricht hastig in den Intervallen dieses allgemeinen Rhythmus ein paar Worte. Fragen und Antworten klinken ineinander, wie Maschinenglieder, jeder Mensch hat nur ganz bestimmte Aufgaben, die Berufe sind an bestimmten Orten in Gruppen zusammengezogen, man ißt während der Bewegung, (...) wieder anderswo stehen die Türme, wo man Frau, Familie, Grammophon und Seele findet."2
Zweifellos zeigt diese Beschreibung eines mechanistischen Stadtgefüges einige Punkte recht deutlich. Die Folge einer entwickelten Arbeitsteilung ist der ungeheure Bewegungsaufwand. Straße in all ihren Aufsplitterungen ist reines Medium dieser Bewegung, nur Verkehrsfläche. Das entsprechende städtebauliche Konzept lieferte der Zeitgenosse Corbusier: Stadt verdichtet sich vertikal zu Türmen mit großer Autonomie, die in einer Parklandschaft verstreut, die verbunden und versorgt sind durch funktionell entflochtene Verkehrsbänder und Pipelines.
Dieses Programm kam der industriell-politisch verknüpften Bau- und Planungspraxis auf halbem Weg entgegen und fand in abgewandelter, vielfach auch mißverstandener und vereinfachter Form schließlich Eingang in das Repertoire von Planern und Bauträgern. Die einfache mechanistische Zerlegung der Prozesse und deren klar überschaubar geordnete Staffelung sollte die konfliktfreie Abwicklung menschlichen Zusammenlebens gewährleisten ("Die strahlende Stadt"). Der Begriff der Trennung der Verkehrsebenen lieferte zur rechten Zeit die Methode für die umkehrbar eindeutige Zuordnung Auto-Straße. Die Straße als verlängertes Fließband und Transportfläche für Produkte der Automobil- und Folgeindustrien (Asphalt und Benzin werden aus demselben Rohstoff durch dasselbe Verfahren erzeugt...) ist Fabrik, die Bewegung auf vier Rädern wird zum eigentlich wichtigen Produktionsvorgang. Dementsprechend ist die optische Ausrüstung der Verkehrsflächen (Plakattafeln, Leuchtschriften ...) in Dimension und Zeichenhaftigkeit exakt auf das Erlebnisbild des Autofahrers abgestimmt: Geschwindigkeit rhythmisiert durch Signale. Stadterlebnis ist gleich Autoerlebnis, am augenfälligsten bei Nacht: total erfaßt und umgesetzt in den Autofahrten in Filmen wie Bullitt, Brutale Stadt, French Connection... Das Verhältnis von Transport-Versorgung zu Wohnen-Unterhalt ist ökonomisch kopflastig. Bewegung ist alles, das Ziel ist nichts.


DIE GESELLSCHAFT

Leopold Bloom, Anzeigenvertreter einer Dubliner Tageszeitung, ist morgens auf dem Weg zum Fleischhauer. Er geht durch die Straßen, er benützt die Stadt, das gesamte Angebot, das sie den Sinnen bietet, und wird selbst benützt: 3 ER KAM IN DIE NÄHE VON LARRY CIROURKEIS GESCHÄFT. Nahziel auf dem Weg zum Fernziel. Bloom kennt das Lokal und auch den Besitzer. AUS DEM KELLERGITTER KLANG SCHLABBRIGES PORTERGEPLÄTSCHER. Akustischer Reiz aus der Tiefe der Straße, am Geruch (der hier nicht erwähnt ist), an der Bewegungsart der Substanz ist das Bier kenntlich. DURCH DIE OFFENE TÜR SPRITZTE DIE BAR ALLERLEI DUFTE.INGWER, TEESTAUB, BISKUITBREI. Geruchsreize aus der Seite der Straße, im Zusammenhang mit der Nutzung (Bar) identifizierbar. ABER DOCH EIN GUTES HAUS: GERADE AM ENDE DES STADTVERKEHRS. Blooms Reaktion auf die Reize, ihr Erkennen, Einordnen und Bestätigung der Erwartung und Erinnerung nimmt assoziativ eine weitere Bestätigung auf: seine wirtschaftliche Einschätzung des Lokals. M.AULEY'S KNEIPE Z.B. DA UNTEN: K.G. LAGE. Bloom vollzieht gedanklich im Vergleich eine Stellungnahme, die er auch "offiziell" vertreten könnte. Bezeichnenderweise denkt er in "Berufskategorien"; k.g. (keine gute) Lage ist ein Anzeigenkürzel. JA, WÜRDE EINTE TRAMBAHNLINIE AM NORTHCIRCULAR ENTLANG VOM VIEHMARKT BIS AN DIE KAIS GEBAUT, STIEG DER WERT GLEICH GEWALTIG. Begründung und Interpretation, gleichzeitig eine aufschlußreiche städtebauliche Stellungnahme: verbesserte Infrastruktur = bessere Nutzungsmöglichkeit = größere Nachfrage = Bodenpreis steigt.4 KAHLKOPF ÜBER DER BLENDE. Die Assoziation wechselt von der Sache zur Person, in Form und begleitet von einer optischen Erinnerung, VERSCHMITZTER ALTER GEIZHALS, die einer sensitiven, persönlichen Erfahrung zugeordnet ist, GANZ ZWECKLOS, DEN WEGEN EINER ANNOUNCE RANZUKRIEGEN, VERSTEHT SEIN GESCHÄFT VORZÜGLICH. Die Denklinie kehrt nach Einschätzung in Bezug auf Blooms Person (Announce) und die Person O’Rourke's selbst zum Ausgang zurück ( ..aber doch ein gutes Haus). DA STEHT ER JA, DER ALTE SCHLAUE LARRY - Bloom sieht ihn jetzt und registriert es – IN HEMDSÄRMELN, AN DIE ZUCKERKISTE GELEHNT UND BEOBACHTET meint Bloom, er schließt von äußerer Haltung auf inneres Tun DEN GEHILFEN MIT DER SCHÜRZE, eine weitere Person, nicht näher definiert, WIE ER MIT EIMER- UND AUFNEHMER REINE MACHT. SIMON DÄDALUS MACHT IHN GENAU NACH MIT SEINEN ZUSAMMENGEKNIFFENEN AUGEN. Erinnerung, projiziert durch und auf die Situation, Verhalten eines Dritten, der beiden bekannt, aber nicht anwesend ist, der O’Rourke‘s allgemeines und auch im Moment mögliches Verhalten im Detail nachahmt und dadurch definiert. VIISSEN SIE, WAS ICH IHNEN ERZÄHLEN WILL? WAS DENN, HERR O’ROURKE? WISSEN SIE WAS? DIE RUSSEN WÄREN FÜR DIE JAPANER NUR EIN HAPPEN! Bloom erinnert ein Gespräch und überträgt es mit Frage und Antwort in die Gegenwart. WILL STEHENBLEIBEN UND WAS SAGEN. Nachdem das Gespräch gedanklich schon begonnen ist und auch Bloom immer näher kommt, tritt der Wunsch (die Verpflichtung) zum Gespräch konkret auf. VIELLEICHT ÜBER DIE BEERDIGUNG. Bloom sucht einen geziemenden Anlaß, die Situation ist nicht so wichtig, er geht ja eigentlich einkaufen. ES IST DOCH JAMMERSCHADE UM DEN ARMEN DIGNAM,- HERR O’ROURKE. Bloom probiert gedanklich einen neutralen Satz, eine vierte, beiden bekannte Person, ein geziemender Anlaß, dem Interesse zugewendet werden kann, der eine Ansprache rechtfertigt. ALS ER IN DIE DORSETSTREET EINBOG, GRÜSSTE ER ZUR TÜR H1NUBER UND SAGTE FRISCH: frisch, weil er gedanklich seine Beziehung zur Person und zur Situation überprüft und bestätigt hat, weil er für den Fall ein geeignetes Thema sicher zur Verfügung hat (auch wenn es etwas so Unerfreuliches wie eine Beerdigung ist) "GUTEN TAG HERR O’ROURKE". "GUTEN TAG.HERRLICHES WETTER, WAS? " "KANN ES SICH NICHT BESSER WUNSCHEN! "
So konkretisiert sich dieser Erlebnis- und Verhaltensvorgang in der freundlichen Variante der obligaten Grußformel, die beide in der angenehmen Stimmung einer in richtiger Weise vollzogenen Begegnung beläßt. Die im gedanklichen Vorwegnehmen vielschichtig durchgespielte und erfaßte Situation entlädt ihre Spannung im ganz banalen Klischee. Im Weitergehen kann sich dann Bloom erleichtert - er hat ja gegrüßt und ist gegrüßt worden - noch kritisch mit O’Rourke auseinandersetzen, bis ihn die nahe Fleischerei wieder davon ablenkt.
James Joyces "Ulysses" gibt eine minuziöse Beschreibung der Stadtstraße und der ihr zugeordneten möglichen Erlebnis- und Verhaltensvorgänge. An diesem relativ willkürlich gewählten Ausschnitt läßt sich ganz deutlich das Erlebnisprofil des Fußgängers in der Stadt ablesen. Die Bewegung, das Gehen ist der vorgelegte Rhythmus. Reize in jeder Form nähern sich, werden wahrgenommen, assoziativ verkettet, bestätigt und wieder auf die Wahrnehmung projiziert. Identifikation und Kontakt vollzieht sich ununterbrochen an der Reibfläche von anlaßgemäßem Normverhalten - Klischee und freier Assoziation - Erinnerung und Vorstellung. Das Beispiel ist insofern atypisch für die gegenwärtige Stadt bzw. Großstadt, als Leopold Bloom völlig integrierter Teil eines Milieus ist, das durch die Art seines Aufbaus und 2usammenhangs in jeder Schicht und von jedem Punkt des Ganzen abgelesen und identifiziert werden kann. Straße - Quartier - Stadt deckt sich im Erlebnisraum und Rahmen für zwischenmenschliches Verhalten in der Öffentlichkeit. Erving Goffman erklärt eine ähnliche Szene folgendermaßen: "Kommt es zu solcher Höflichkeit zwischen zwei Passanten, kann höfliche Gleichgültigkeit in der besonderen Form walten, daß man den anderen ins Auge faßt, bis er sich bis auf etwa drei Meter genähert hat - in dieser Zeit werden die Seiten des Gehsteigs durch Gebärden aufgeteilt -, dann, während der andere vorbeigeht, schlägt man die Augen nieder, man blendet quasi ab. Das ist eines der vielen speziell für die Großstadtstraße und die Begegnung einander fremder Menschen entwickelte interpersonellen Rituale, die als gesellschaftliche Übereinkunft bestehen. Joyce zergliedert und verdeutlicht vor allem die Gleichzeitigkeit, die Überlappung und Zuordnung der verschiedenen Ebenen der "Straßenereignisse" weniger Minuten. Personen tragen für kurze Zeit die "Handlung", umkreisen oder durchqueren die Szenerie des Viertels, werden aber im nächsten Abschnitt, der u.U. dieselbe Zeiteinheit durch eine andere Person wieder aufnimmt und definiert, zu Nebenfiguren. Ort, signifikante Personen und Verhalten bleiben ziemlich gleich. Details wiederholen sich, erhalten aber im jeweiligen Filter differenzierte Wertigkeiten.

Obere Mittelschicht:
"Der Superior, Seine Ehrwürden John Conmee S.J. ... "6 begibt sich zur Straßenbahn. Er wird das Begräbnis von Dignam, das schon morgens bei Bloom eine Rolle spielte, abhalten. "Ihm entgegen kam die Frau des Herrn David Sheehy M.P. "Sehr gut, wirklich, Pater. Und Ihnen, Pater?"

Pater Conmee ist eine offizielle Person, sein Auftritt im Straßenleben hat gewisse "offizielle" Züge. Er grüßt besonders Frauen, achtet auf Kinder - "Eine Schar tornisterter Jungens kam aus der Richmondstreet herüber. Alle zogen schmierige Kappen. Huldvoll nickte Pater Gorlmee ihnen mehrmals zu ... " - und wird selbstverständlich von einer anderen offiziellen Person gegrüßt: "Ein diensttuender Polizist grüßte Pater Conmee, und Pater Conmee grüßte den Polizisten."
Unterste soziale Schicht: "Ein einbeiniger Matrose" - Pater Conmee war ihm beim Verlassen des Presbyteriums begegnet und "segnete ihn in der Sonne, denn er wußte, daß seine Geldbörse nur eine silberne Krone enthielt." – "krückte um die Mac Connell Ecke, (..) Larry O’Rourke, der in Hemdsärmeln in der Türe stand, knurrte er verdrießlich entgegen. "Für England..." 7. 34 Zeilen lang ist der bettelnde Matrose das Medium für eine spezielle Sicht der Ecclesstreet und ihrer Bewohner, Passanten. Die Straße ist sein Arbeitsplatz und jedes Fenster ein möglicher, bestimmte Fenster sichere Geldgeber.

Oberste soziale Schicht: "William Hamble, Earl of Dudley, und Lady Dudley fuhren (..) vom Vizeköniglichen Palais (..). Der Vizekönig wurde auf seinem Weg durch die Metropole sehr herzlich begrüßt." 8 Diese Fahrt, die das Kapitel beschließt, ist nun ein hochoffizieller Anlaß. Alle Aufmerksamkeit ist darauf bezogen. Die Straße wird zur Bühne für ein konzertiertes "Ballett" (J.Jacobs), wird zur Schaustellung, zur Cocktailparty. Alles nimmt teil: Der Poddle River, der - "aus dem Ausflußloch in der Mauer des Wood Quai zum Zeichen seiner Ergebenheit seine Sielwasserzunge rausstreckte" - Dädalus, der "auf dem Ormond Quai auf seinem Weg vom Pissoir nach dem Bureau des Untersherrif mitten auf der Straße stehenblieb und tief den Hut zog" - das "himmelblaue Stirngeschirr und der Prunk der Riemenpferde" (des Vizekönigs), dem "Blazes Boylan eine himmelblaue Krawatte, einen weitkrempigen, keck sitzenden Hut und einen Anzug aus indigofarbenem Serge zeigte" - das trockene Brot, das "ein Fußgänger im braunen Macintosh in der Lower Mountstreet aß, der schnell und unverletzt den Weg des Vizekönigs kreuzte" - und zuletzt "..der Gruß von Almidano Artifonis kräftiger Hose, der grade von einer sich schließenden Tür verschlungen wurde." Die Verklammerung mit den vorhergehenden Szenen erfolgt weiters durch ein Plakat - "An der Royal Canal Bridge bot von seinem Zaun herab Eugen Stratton, dessen dicke Negerlippen grinsten, allen (..) ein Willkommen" - zu "Vom Bretterzaun grinste Eugen Stratton mit den dicken Negerlippen Pater Gonmee an." - und durch einen Blinden -"Broadbent gegenüber fuhr er an einem blinden Jüngling vorbei" -, der immer wieder auftaucht, den auch Bloom (Mittelschicht) einmal über die Straße führt und dabei über dessen Wahrnehmungsfähigkeit nachdenkt - "Muß eine seltsame Vorstellung von Dublin haben, wenn er sich so an den Bordsteinen entlangtastet."9 Einzeln betrachtet erscheinen diese Phänomene betont trivial. Ihre Gesamtsumme hingegen definiert letztlich die öffentliche Identität von Menschen. So gesehen ist die Straße (Gehsteig) ein - wenn nicht das wichtigste - Medium der ständigen öffentlichen Überprüfung und Herstellung gesellschaftlicher Übereinkunft durch Vollzug der in sie eingebundenen Verhaltensformen. Die scheinbar ungeordnete Flut von Wahrnehmungen und Erlebnissen im Straßenraum unterliegt also ganz bestimmten Gesetzlichkeiten die wieder, indem sie elementare Abläufe (Begegnung, Erkennen-, Gruß ...) stereotyp kanalisieren, Wahrnehmungs-, und Reflexionsenergie freimachen: Leopold Bloom kann völlig gesittet durch die Straßen schlendern, den Anschein großer Geschäftigkeit erwecken, Bekannte grüßen, auf den Verkehr achten und dennoch frei vor sich hin träumen."


DER TRAUM

Verfolgung, Suche, Verirren, Kindheit und Straße stehen in Träumen oft in enger Verbindung. "Er begann, wie Träume das häufig tun, mit einer Verfolgung. Ich jagte einem kleinen, hageren Mann durch eine dunkle Strasse nach, folgte die ganze Nacht von einem Ort zum anderen seiner Spur.." schreibt Henry Miller 10. Und an anderer Stelle 11: "Ich befinde mich in einer besonderen Strasse und suche nach einem besonderen Haus. Obwohl ich die Straße nie gesehen habe, ist sie mir vertrauter, erschlossener und bedeutsamer als jede mir bekannte Straße. Es ist die Straße, auf der ich zur Vergangenheit zurückkehre. Jedes Haus, jede Vorhalle, jedes Tor, jeder Rasen, jeder Stein (..) spricht eine beredte Sprache. (..) Die Straße hat keinen Anfang und kein Ende: sie ist ein in einer flockigen Aura schwimmendes, in sich vollständiges Segment. 0bwohl sich nie irgendeine Handlung auf dieser Straße abspielt, ist sie doch nicht leer oder verlassen. Tatsächlich ist sie die lebendigste Straße, die ich mir denken kann. Sie ist lebendig von Erinnerungen (..). Ich kann nicht sagen, daß ich diese Straße hinunterwandle, noch auch, daß ich durch sie gleite. Die Straße macht mich zu ihrem Bestandteil. Ich werde von ihr verschlungen. Dieser "immer wieder"- kehrende Traum von fast rituellem Charakter zeigt typische Bestandteile - es fehlt "bedeutsame" Handlung, es handelt sich ganz banal um das Kennen von Umwelt.- "In der inneren Stadt“ (von Perle, Hauptstadt des Traumlandes“ (..)“war es sogar auffallend öde und menschenleer. Aber trotz diesem trägen Strassenleben war gerade das, was man sah, wegen seiner Vertrautheit einem zur lieben Gewohnheit geworden`- Eine fast identische Stelle aus A. Kubins "Die andere Seite“.12 Die Unüberschaubarkeit des Raums ( .. kein Anfang und kein Ende..), bei gleichzeitiger Nähe zur Dingwelt (..jeder Stein..), das Fehlen von Bewegung – und dadurch von Zeit – als Erlebnisträger, das Eingebettetsein als elementarer Zustand (..daß es sich fast auflöst ...von ihr verschlungen..) kennzeichnen das kindliche Primärerlebnis: Jene Nahaufnahme der Umwelt, in der Quantität, Dimension und Engagement sich decken, was Miller dann auch ausspricht: " Die geliebte Straße dreht sich langsam wie ein Drehtisch (..), fügt sich fugenlos und unerbittlich den sich kreuzenden Straßen ein, die das Muster unserer Kindheitsumgebung bilden.“ Pflaster, Fahrradgitter, Häusersockel, Schulweg, Straße .. ein prägendes, nachvollziehbares Muster, das einen nicht unwesentlichen Platz im Unterbewußtsein einnimmt.


AUSBLICK

Jane Jacobs meint, "Straßen und Gehsteige sind die wichtigsten öffentlichen Orte der Stadt.“ Freilich ist die Skepsis, wieweit Öffentlichkeit "überhaupt noch an Orte gebunden ist, nicht von der Hand zu weisen. "Das Großstadtgebiet“, also auch Straßen und Plätze, " ist für das Telefon, das Radio und das Fernsehen in gleicherweise beziehungslos“ (McLuhan). Als Folgeerscheinung der Medienentwicklung nahm die Zahl der Treffpunkte auf und an der Straße ab, verloren die Straße und die ihr anliegenden öffentlichen und halböffentlichen Flächen ihre para-institutionellen Funktionen im Stadtleben (siehe "Kaffeehaussterben“). Entwickelte Massenmedien verlagern Ort und Weise der gesellschaftlichen Identifikation des Einzelnen. Verstrickt in anachronistische Strukturen von Macht-, Informations- und Konsuminteressen“ erzeugen sie ein fiktives Bild der gesellschaftlichen Wirklichkeit, das, ständig und ohne zeitliche Verzögerung dargestellt, die Einzelnen ihrer (ebenso fiktiven) Teilnahme, ihres Einflusses und ihrer Identität an und in der Realität versichert. Das ist nicht als Kritik der Medien an sich zu verstehen, sondern ein Hinweis darauf, wie die verschiedene Geschwindigkeit der Entwicklungen, wie ein Nebeneinander von alten und neuen Strukturen (- auch aus Anachronismen kann man noch lange Profit ziehen) die Veränderung gesellschaftlicher Wirkungsweisen beeinflußt. Rein technologisch gesehen sind Straßen heute ein Anachronismus. Zwar "sprechen“ sie recht augenfällig in Reklameschriften und Plakatwänden, doch braucht man nur die Kosten einer Plakatierungsaktion mit den Kosten einer Minute(Sekunde)- Werbefernsehen zu vergleichen, um die wahre Effizienz zu begreifen. Was bleibt als Ausblick für diese unsere unwirtlichen, anachronistischen Straßen? Wiederherstellung in Form einer musealen, kulinarisch ausgerichteten Umweltoase? "Auto“ oder "Nicht-Auto“ und "Baum“ oder "NichtBaum“ stellen als kontradiktorische Einzelmaßnahmen keine echte Alternative dar, sondern sind taktische Handhabung der "öffentlichen Meinung“, bei der Medien und maßgebliche Planungsstellen einander auf fatale Weise in die Hände arbeiten. Vielleicht ist die grundsätzliche Einsicht, die auch Gehsteigmaler und spielende Kinder nicht mehr als unordentliche Störenfriede betrachtet, ist das bewußte Erfassen dieser Widersprüchlichkeit, die ja ein Widerspruch der Gesellschaft ist, ein Anfang, die Straße als legalen Aktionsraum; als Ort, Möglichkeit und Verpflichtung der Aufdeckung eben dieses Widerspruchs zu handhaben.

Geh bei Rot über die Straße. Laß dich in deinem Spaziergang nicht unterbrechen. Wenn dich ein Polizist erwischt: gib deinen Fehler zu, aber weigere dich zu zahlen. Verlange ein Gerichtsverhandlung. Wenn alle dies tun, werden die Gerichtshöfe durch Ampeldelikte gelähmt. 13


Fussnoten:

1 Aus einem Flugblatt, MFT, Schweden, nach "Schweden, z.B.“, 1970 Frankfurt/Main, S 370
2 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1952,S31
3 James Joyce, Ulysses, Band I, Zürich 1956, S 68
4 Die Errichtung bzw. Verbesserung öffentlicher Infrastruktur ergibt einen Bodenwertzuwachs für die anliegenden Grundstücke. Allein die Umwidmung von Ackerland in Bauland im Zeitraum von 1961-71 erbrachte in der BRD den Bodenbesitzern einen "nicht leistungsbedingten Wertzuwachs“ von ca. 50 Milliarden DM. Siehe Der Spiegel, 24/71
5 Erving Goffman, Verhalten in sozialen Situationen: Strukturen und Regeln der Interaktion im öffentlichen Raum, Gütersloh 1971, S 85
6 Siehe (3), S 248
7 Siehe (3), S 254
8 Siehe (3), S 284
9 Siehe (3), S 2o6
10 Henry Miller, Plexus, Hamburg, 1955, S 191
11 Siehe (10), S 237
12 Alfred Kubin, Die andere Seite, München 1968, S 68
13 Siehe (1) MISSING LINK 1973


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