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16 / 11 / 02 – 15 / 12 / 02
Exhibition / Films / Talks / Performance

My Favorite, Favorite Things: Meine liebsten liebsten Dinge
Mark Rakatansky (USA)

Technische Assistenz:
Andrew Parsegian, Projekt Manager; Ton-Ingenieur, "MC" und “Dual / Duel / Duet”
Adam Phillips, Ton-Ingenieur, "Duet Anticipated"

Liner Notes für "My Favorite, Favorite Things" Audio Projekt, Mark Rakatansky

siehe auch:
haus.0 script, deutsche Übersetzung von "Spatial Narratives" (1991), Mark Rakatansky

English

Tied up, Fly with, Melt into: John Coltrane’s Sample und Scratch
Mark Rakatansky

Viele Leute glauben zu Unrecht, dass “My Favorite Things” eine meiner Kompositionen sei; ich hätte es liebend gern geschrieben, aber es ist von Rogers und Hammerstein. . . . “Favorite Things” ist von allen Stücken, die ich aufgenommen habe, mein liebstes. … Dieser Walzer ist fantastisch: wenn man ihn langsam spielt, enthält er ein –überhaupt nicht unangenehmes – Gospel-Element; wenn man ihn schnell spielt, hat er andere unbestreitbare Qualitäten. Es ist sehr interessant, einen Bereich zu entdecken, der sich je nach dem Impuls, den man ihm gibt, selbst erneuert.
—John Coltrane im Interview mit François Postif in Jazz Hot, Januar 1962


MARLOW:In fact, now that I look at you properly, I can see what you are.
NURSE MILLS: Oh. Can you indeed.
MARLOW: You are the girl in all those songs. Dee dum.
NURSE MILLS: What songs?
MARLOW: The songs. The songs. The bloody, bloody songs.
NURSE MILLS: I wish I knew what you were talking about —
MARLOW: The songs you hear coming up the stair.
NURSE MILLS: Sorry?
MARLOW: When you’re a child. When you’re supposed to be asleep. Those songs.

— Dennis Potter, The Singing Detective, 1986.


Tied Up With
“Brown paper packages tied up with strings / These are a few of my favorite things”

Lange Zeit dienten mir Coltranes Versionen (des Roger- und Hammerstein-Songs “My Favorite Things” ) als einer – unter mehreren – Leitfäden für die Abläufe in meiner Architektur, meiner Kunst und meinen Schriften; lange habe ich mich seinen verschiedenen Versionen – oder eher seinen verschiedenen ‘Versionierungen’ – gewidmet; nicht als einem Modell, sondern als einer Modellbildung – wie Godard sagt: “Wir müssen zeigen, dass es kein Modell gibt, nur Modellbildung.” Meine Ziele und Gedanken waren somit also schon so lange mit dieser Arbeit verbunden, dass es mir, als Fareed Armaly vorschlug, ich solle eine auf “My Favorite Things” aufbauende Soundarbeit für sein haus.0 Programm im Künstlerhaus produzieren, so derartig fundamental erschien, dass ich erst einmal einige “Neins” lang durchhielt, bis schließlich seine Beharrlichkeit mich zu einem “Ja” überredete.

Also, es ist sicher eine Melodie, mit der man verbunden sein kann, in die man verfangen sein kann, so scheint es zumindest für John Coltrane zu gelten, was vielleicht erklärt, warum er ihr so verbunden war, und sie, zwischen der Originalaufnahme 1960 und seiner letzten Live-Aufnahme drei Monate vor seinem Tod 1967, über die Jahre hinweg sicher hunderte Male gespielt hat. Jede Version ist natürlich verschieden; von den ursprünglichen 13 Minuten bis zur längsten mit 59 Minuten (Tokio 1966), und natürlich habe ich Lieblingsmomente in jeder einzelnen.

Coltrane hat dieses Lied offenbar favorisiert, ja geliebt, so wie er selbst in dem oben zitierten Interview sagt, aber er – oder man – könnte es auch gehasst haben – wie Dennis Potter meint:

“. . . manchmal beschäftigen mich die, die ich am meisten hasse, am allermeisten, weil ich bemerke, wie ich mich frage, ‘Warum zum Teufel habe ich das dann im Kopf?’ … Der Zweck ist … eine vielleicht außergewöhnlich banale Melodie und einen unsinnigen Text wieder zu sehen, wieder zu hören. Anders gesagt, dem Lied die Bedeutung der emotionalen und physischen Umgebung zu verleihen, die dich dazu bringt, es wieder zu hören.”

“The bloody, bloody songs”, wie Marlow in The Singing Detective sagt.

Wie auch immer, es geht darum, worin man verstrickt ist; es geht um Verwicklungen bzw. ob man sich entscheidet, dieses Verwickeltsein vorzuführen.

Ich habe mir Folgendes vorgestellt: John Coltrane als der erste Hip-Hopper; als der erste, der lyrische Töne sampelt und scratcht, so wie im Hip-Hop später mit wirklichen lyrics verfahren wird. Coltranes Versionen sind nicht nur einfach und leicht dahinswingende Versionen; nicht nur formelhaft aufgejazzte Versionen. Im Lied heißt es ‘I simply remember’ – “When the dog bites / When the bee stings / When I’m feeling sad / I simply remember my favorite things / And then I don’t feel so bad” – aber Erinnerung ist alles andere als einfach, wie sowohl Coltrane als auch der Hip-Hop so anschaulich vorführen. Wie auch im Hip-Hop liegt hier ein Mix gesampelter Geschichte, kreuz- und querlaufender Geschichte, Gegengeschichte vor. Coltrane erinnert sich, aber nicht einfach. Er bietet eine komplexe Gegengeschichte zu seinem Verwickeltsein. Coltrane als MC.

Zu den (liebsten) Dingen, an die er sich aktiv erinnert, gehört die Melodie, die den Charakter von Mary/Maria verkörpert: “the girl in the song”, um Dennis Potters Ausdruck zu gebrauchen; nicht Julie Andrews aus dem Film von 1965 – lange nach Coltranes erster Aufnahme 1960 –, sondern Mary Martin aus der Broadway-Produktion von 1959, dem Ursprungsdatum. Und die Szene ist nicht wie im Film, nicht die steife und frenetische Version der Hollywood-Maria (Andrews) vor all den aufgeregten Kindern auf dem von Trapp-Anwesen, sondern ein Duett in der Abtei zwischen der Broadway-Maria (Martin) und der Äbtissin (gespielt von Patricia Neway). Nicht eine Solo-Gouvernantenlektion für zappelige Kinder, sondern ein verwickeltes Duett zwischen ruhelosen Erwachsenen: der Novizin Maria und der Äbtissin, die in diversen Sehnsüchten und Zweifeln miteinander verbunden sind.

Das Mädchen in dem Lied zu finden, das Begehren und die Zweifel, die Freude und die Angst zu finden, die bereits in dem Lied enthalten sind, nun, das kann passieren; es kommt darauf an, wie man es anhört. Hier ist zum Beispiel noch eine andere Maria: von der Musikwissenschaftlerin Helga Thoene entdeckt (und kürzlich von Christoph Poppen und dem Hillard Ensemble auf ihrem Album Morimur eingespielt): Bachs „Ciaccona“ — der bis dato vermeintliche Instrumentalteil, der die Zweite Partita in D-Moll seiner “Sechs Solos für unbegleitete Violine” abschließt — ist ein “tombeau,” eine musikalische Grabschrift nach dem unerwarteten Tod seiner Frau Maria Barbara im Jahre 1720. Thoene hat die chorale Phrasierung von Tod und Wiederauferstehung, Freude (“Hierfür werden wir voller Freude sein”) und Furcht (“Auf meinen geliebten Gott vertraue ich in Furcht und Not”), Traurigkeit (“Gewähre uns Geduld in Zeiten der Trauer”), Zweifel (“Wo werde ich Zuflucht finden”) und der damit verbundenen Sehnsucht (“Befiehl nun alle meine Wege”), die der abstrakten Instrumentalmusik eingeschrieben sind, enthüllt, wobei sie Bachs wohlbekannten Techniken und seinem Spiel mit der Verschlüsselung von Namen und Nummerierungen in seiner Arbeit folgt. Die Verwicklung von Text und Versmaß findet seinen Widerhall, wenn in den Texten selbst die Rede vom Verfangensein ist: “Christus lag in Todesfesseln” und “Von daher kam dann der Tod so schnell / Und ergriff die Macht über uns / Hielt uns als Gefangene in seinem Reich”). Bach verschlüsselt lyrisches (Chor-)material in dieser Partita, so wie er in vielen seiner Arbeiten seinen Namen und verschiedene Zahlenspiele verschlüsselt hat; das ging so weit, dass er sogar einen Weg fand, Marias Namen “am Beginn der ’Ciaccona’ in kryptographischer Form zu verschlüsseln.”

Und wenn es jetzt seltsam erscheint, im Zusammenhang mit der vermeintlichen Fröhlichkeit von “My Favorite Things” das Bild des Todes zu beschwören, sollte angemerkt werden, dass der Text von The Sound of Music der letzte war, den Oscar Hammerstein II verfasste. Die letzten Fassungen schrieb er schon im Bewusstsein seiner Krebskrankheit, an der er weniger als ein Jahr nach der Broadway-Premiere und fast zwei Monate vor jenem 21. Oktober 1960 verstarb, an dem John Coltrane das Atlantic Recording Studio in 234 W 56 betrat, um seine allererste Re-Versionierung aufzunehmen - bloß zehn Manhattan-Blocks nördlich vom Lunt-Fontanne-Theater, 205 W 46, wo The Sound of Music elf Monate zuvor uraufgeführt worden war und bis zu dem Tag, an dem Coltrane seine Fassung aufnahm – und noch ein Jahr darüber hinaus – aufgeführt wurde. Wer weiß: Vielleicht hat Mary genau in dem Moment gesungen, als John ins Mikrofon gespielt hat, bloß einige Blocks weit voneinander entfernt. Nicht in Hör-, gewiss aber in Sichtweite, einfach den Broadway hinunter. Nahe aber fern, fern aber nahe?

Um die Texte in der Musik, die Texte, die in Coltranes Musik verfangen sind, zu finden, ist man in Coltranes Oeuvre nicht auf die Interpretationen beliebter Songs beschränkt: Lewis Porter hat nachdrücklich vorgeführt, wie Psalm, der abschließende Teil von Coltranes eigener “abstrakter” Komposition A Love Supreme eine fast wortwörtliche, silbengenaue Rezitation von Coltranes “Gedicht” ist — jenem sentimentalen Gebet, das in den Begleittexten des Albums zu finden ist; voller Sätze der Freude (“Seine Art ist so lieblich”), der Furcht (“Hilf uns, unsere Furcht und Schwächen aufzulösen”), Zweifel (“Es gibt keinen einfachen Weg”) und der damit verbundenen Sehnsucht (“Aber sie führen alle zurück zu Gott”). Coltranes Texte sind in ihrem konventionellen und abgedroschenen religiösen Vokabular natürlich nicht mehr und nicht weniger süßlich-sentimental als Bachs Choräle oder Hammersteins Texte von Sound of Music. Und obwohl Coltrane, anders als Bach, nicht allgemein dafür bekannt ist, seinen abstrakten Klängen lyrisches Material einzuschreiben, sprach er doch in einem anderen Interview mit der französischen Zeitschrift Jazz Hot – drei Jahre nach dem oben zitierten – sehr deutlich diese Technik, dieses Spiel, an. Coltrane wurde dort nach diesem Love Supreme-Gedicht gefragt und ob der Text dabei hilfreich wäre, “die Musik zu verstehen”. Er antwortete: “Dies ist das längste, das ich je geschrieben habe, aber bestimmte Stücke auf dem Album Crescent sind auch Gedichte, so z.B. ‘Wise One,’ ‘Lonnie’s Lament,’ ‘The Drum Thing.’ Manchmal gehe ich so vor, weil es ein guter Zugang zur musikalischen Komposition ist. Ich interessiere mich auch für Sprachen und Architektur.”

Dies sind verschiedene Möglichkeiten, die lyrische Figuration innerhalb der abstrakten Instrumentierung zu finden, die abstrakte Struktur innerhalb des Figuralen (des Lyrischen) — es ist eine Art der Nachfrage, was Form, was Figur ist und wie sie miteinander verbunden sind: in der Musik, der Sprache oder der Architektur; ob man abstrakteste Komposition entwirft oder ob man versucht herauszufinden, wie eine Neufassung von “My Favorite Things” aussehen könnte.

Die Frage ist jetzt die: Wie löst man so ein Problem wie Maria?

Das ist die Frage, die sich Rogers und Hammerstein und Martin und Coltrane und ich uns stellen mussten. Sogar Bach musste das tun.

Im ersten Abschnitt meiner Neufassung von My Favorite Favorite Things, “Duet Anticipated”, habe ich aufgegriffen, was im Original das Wechselspiel des gesamten Songs ist – erst singt Mary alle Strophen, dann singt die Äbtissin alle Strophen, dann singen sie abwechselnd die ersten zwei Takte des letzten Abschnitts, dann singen sie ganz am Ende im Duett – und habe es (durch viele taktische Mikroschnitte hie und da) in ein durchgehendes Duett zwischen Maria und der Äbtissin verwandelt, das im Original bereits angelegt ist. Mary Martin singt im Original etwas schneller als Patricia Neway, also konnte ich durch das Entfernen der Abstände zwischen einzelnen gesungenen Noten nicht so sehr eine absolute Gleichzeitigkeit der beiden Stimmen erreichen (eine Tendenz der Aufnahmestudios, die ich vermeiden wollte), aber das Begehren der Sängerinnen zeigen, sich durch die Zeit einander anzugleichen, was in Wirklichkeit die subtilen Unterschiede und Diskrepanzen, die komplexen Verwicklungen zwischen Vokalisierung und Orchestrierung, die Verwicklungen zwischen lyrischer Sehnsucht und Zweifel enthüllt.

Im zweiten Abschnitt von My Favorite Favorite Things, “MC” (so wie in Mary Coltranisiert oder MC (Master of Ceremonies) Coltrane oder Martin und Coltrane), lasse ich Mary John begleiten, wobei ich weiß, dass es ursprünglich John gewesen ist, der Mary begleitet hat. Die Höhe und das Timing ihrer Melodie sind jetzt seiner Melodie durch unzählige Mikro-Operationen (fast, aber nicht immer) angepasst, darunter lyrische Ankündigungen, Phrasierung und Tonalität – um so die eigenen Sehnsüchte, die eigenen Verwicklungen mit der Zeit einander anzugleichen, mit der Zeit zu verwickeln. Ich sage 'unzählige', da die Entscheidungen und Wiederholungen nicht zu zählen waren, doch der Computer kann z.B. ihre (Marys) Noten, die bearbeitet wurden, zählen und hat dabei bis heute 1405 erreicht.

Der dritte Abschnitt “Dual/Duel/Duet” stellt eine alternative Version dar, eine alternative Aufnahme von “MC”. In Wirklichkeit sind alle Abschnitte natürlich alternative Aufnahmen: sie transformieren und dekodieren Material, indem sie Alternativen aufnehmen, die im Objekt bereits angelegt sind, sie zeigen das, was geändert wurde, indem sie zeigen, dass es sich mit dem, was war, auf aktive und bewegte Weise verändert. “Duet Anticipated” und “MC” wurden zu kontinuierlichen Duetten entwickelt, zu kontinuierlichen Verwicklungen – veränderliche Versionen, die simultan zusammengeführt werden – um sowohl Kontinuität wie auch Diskontinuität zwischen Martin und Coltrane zu zeigen, Martin und Neway, vorausgesetzt, dass es Momente in “MC” gibt, die unterhalb des lesbaren Bereichs von Mary liegen, zu tief, zu hoch, so wie es in ”Duet Anticipated” Momente gibt, die zu langsam, zu schnell sind. ”Dual/Duel/Duet” wurde als Antwort auf den rigorosen Wechsel zwischen Maria und der Äbtissin im letzten Teil des Broadway-Originals entwickelt. Die Momente, in denen Mary nun in ”MC” ein Duett mit John singt, werden nicht länger über den Coltrane-Track geschichtet. Wenn Mary jetzt singt, spielt John nicht, wenn John spielt, singt Mary nicht (das sind schließlich Momente, in denen er sich außerhalb ihres Bereichs befindet). Daraus entsteht eine noch extremere Form der Trennung, es ist aber auch – unter dem Gesichtspunkt, dass Mary ”coltranisiert” wurde – auf unheimliche Weise kontinuierlich. Struktur und Operationen werden hier gleichzeitig noch mehr freigelegt, aber auch noch mehr verborgen, denn die Gründe für die Operationen werden nicht länger sichtbar gemacht. In ”Dual/Duel/Duet” kann man Marys Transformationen besser hören, man hört, wie seltsam diese neuen Vokalisationen sind – in ”MC” hört man die Gründe, die Motivationen, für die Transformationen (sowohl von Mary und John) deutlicher.

Was hier zu Stande kommt, ist eine rückwirkende Veranschaulichung dessen, wie sehr das Mädchen in dem Lied steckt, wie kontinuierlich (und nicht nur fallweise) treu Coltrane dem lyrischen Material des Originals geblieben ist und wie außergewöhnlich erfindungsreich er bei seiner Wiedererfindung vorging. Die Vorgehensweise, mit der hier dieses lyrische Material und seine verzerrende Verschlüsselung hörbar und deutlich werden, ist, so stellt sich heraus, nicht so unterschiedlich von der, die in Bezug auf Bachs „Ciaccona“ zur Anwendung kam, wie von Thoene beschrieben: “Die als cantus firmus eingesetzten choralen Melodien können hörbar gemacht werden, in dem die Noten des Violinparts mithilfe zusätzlicher Instrumente oder Stimmen verlängert werden. Um sich mit dem musikalischen Gewebe zu verbinden, wurden Rhythmus und Versmaß der Lieder frei manipuliert. Dies wird besonders deutlich, wo das Choralzitat dieselbe Tonhöhenfolge wie das Fugenthema hat, aber dessen Rhythmus untergeordnet wurde.”

Dieser Dialog, der bei Bach zwischen dem Lyrischen und dem Klang stattfindet, und durch die Neuinterpretation von Poppen/Hillard verdeutlicht wurde, entlarvt jetzt also die Instrumentalversion der „Ciaccona“ als ein Selbstgespräch – in dem Sinne, in dem die besten dramatischen Monologe in Wirklichkeit Dialoge mit anderen sind, oder noch eher Dialoge mit den/m anderen in uns selbst. Ekkehard Jost hat bereits anhand der späten Arbeiten die Aufmerksamkeit auf das Selbstgespräch in Coltranes Musik von 1960 gelenkt; eine “simulierte Polyphonie, in der ein einziges Instrument die Rolle von zweien zu übernehmen scheint” (oder von mehreren, wie bei Bach). Dieses Selbstgespräch tritt in Coltranes letzten Jahren noch verstärkt auf:

“In fast allen Stücken Coltranes gibt es an der einen oder anderen Stelle eine Passage, in der er eine schnelle Abfolge verwandter Phrasen in Beziehung bringt, die zwei oder manchmal drei Oktaven voneinander entfernt liegen. Diese “Dialoge” … gehen auf eines der traditionellsten Elemente des Jazz zurück; so neu und befremdlich es auch in Coltranes Musik erscheinen mag. Sie sind hochkomprimierte, logogrammhafte Frage-und-Antwort-Muster, so wie sie in den frühesten Formen der religiösen afro-amerikanischen Musik vorkommen, oder – um noch weiter zurückzugehen – in der afrikanischen Musik. Nicht zuletzt aus diesem Grund scheinen sie für den gesamten Free Jazz symptomatisch zu sein.”

Dies sollte Coltranes Gospel-Bemerkung aus dem früheren Jazz Hot-Interview erklären: “Dieser Walzer ist fantastisch: wenn man ihn langsam spielt, enthält er ein – überhaupt nicht unangenehmes – Gospel-Element.” Und es könnte auch Josts Verwendung des Begriffes ‘Logogramm’ erklären: ein Zeichen oder ein Buchstabe, der ein Wort darstellt. Wie Coltrane in dem späteren Jazz Hot-Interview bemerkt, ist dieser lyrische Auslöser “ein guter Zugang zur musikalischen Komposition”, ganz wie “in den Sprachen, in der Architektur.”

Dieses Selbstgespräch zwischen Wort und Klang, Sinn und Struktur, oder, um Josts Begriffe “Emotion und Konstruktion” zu gebrauchen, ist eine Form vergleichender Doppelbeschreibung. Wie Gregory Bateson sagte, braucht es nicht einen Schelmen, um einen Schelmen zu erkennen, sondern zwei Schelmen, um einen zu erkennen. (,it doesn’t take one to know one, it takes two to know one.’) Wie wenn man durch ein Fernglas blickt – eine Lüge, die eine tiefere Wahrheit erzählt. Jedes Auge sieht mehr oder weniger dasselbe, aber zwischen dem Mehr und dem Weniger, zwischen dieser Verschiebung und Überlappung, liegt die tiefere Tiefe der Wahrnehmung. Mechanische Ferngläser wirken so, als hätte man noch ein Paar Augen, die einem sowohl nächste Nähe als auch Abstand zum Objekt der Aufmerksamkeit erlauben. So wie die Gruppe Kinder, die ich in Nakuru traf, die – als sie durch mein Fernglas schauten – ihre Köpfe schüttelten und zwischen Glauben und Ungläubigkeit mit ihren Zungen schnalzten, zunächst weit weg deuteten und dann den Zeigefinger wieder nahe an sich zu ziehen. Das Dort und das Hier in Relation bringen. Und selbst wenn man etwas, das nahe ist, noch näher heranzieht, stellt man eine Distanz dazu her, die es einen auf neue Weise sehen lässt, in seiner Vertrautheit und Fremdheit.

So wie Coltrane von seinem hauptsächlich gespielten Tenorsaxofon zu dem Sopransaxofon wechselte, das er in „My Favorite Things“ einsetzt. In den Begleittexten des Albums bemerkt er den Abstand, den er dadurch gewann: “Es ließ mich die Improvisation mit anderen Augen sehen. Es ist so, als hätte man noch eine Hand.”

Anders als bei dem menschlichen Blick durch das Fernglas also, bei dem Tiefenschärfe auf Kosten der Auflösung von Differenz erreicht wird, erreichen ästhetische binokulare Anwendungen diese Tiefe sehr produktiv, indem sie Gleichheit und Differenz zum Spielen bringen; Gleichheit und Differenz werden nicht aufgelöst, sondern übertrieben, Distanz wird gehalten und so zwei fast gleichartige Zustände auseinanderdividiert, um sie schließlich tiefer in Beziehung zueinander zu bringen und ihnen Tiefe zu verleihen.

On and off register, on and off the beat.

Dies bezieht sich auf Homi Bhabhas Begriffe der Mimikry, der schlauen Höflichkeit und der Hybridität, des "fast, aber nicht ganz Gleichen", die aus bestimmten historischen Widerständen gegen bestimmte koloniale Autoritäten entstanden sind... ein diskursiver Prozess, durch den der Exzess oder der Ausfall, der durch die Ambivalenz von Mimikry entsteht (fast das Gleiche, aber nicht ganz), nicht nur den Diskurs "unterbricht", sondern sich in eine Unsicherheit verwandelt, die das koloniale Subjekt als "partielle" Präsenz fixiert. Mit "partiell" meine ich sowohl "unvollständig" als auch "virtuell". Das ist der Grund, warum er es für notwendig hält, die einfache Auflösung (kultureller) Differenz zu vermeiden, um erkennen zu können, wie diese voneinander getrennt und miteinander verbunden, oder, wie er sagt, "weniger als eins und doppelt" sind. Weniger als eins, da die dominante Identität dank der durch mehrfache Beschreibung offenbarten Differenz ihren vereinheitlichten Status verloren hat: nicht vereinheitlicht, weil vervielfältigt. Doch vielleicht wäre es präziser, nicht ‚doppelt' zu sagen. Fast verdoppelt, aber nicht ganz. Weniger als eins und nicht genau verdoppelt. Weniger als eins und schlau verdoppelt.

Doppelte Verwicklungen: Päckchen aus braunem Papier sind es, die in dem Lied mit Schnüren verbunden sind – vom weißen Künstler zum schwarzen Künstler zurück zum jetzt wieder weißen Künstler: braune Päckchen aus Papier, crèmefarbene Ponies, Mädchen in weißen Kleidern, silberweiße Winter. Rogers nächstes Musical, für das er – nach Hammersteins Tod –, sowohl die Musik als auch den Text geschrieben hat, hieß No Strings Attached, und nachdem Rogers seine liberale Hand in Fragen des Rassismus bereits zuvor in South Pacific und The Sound of Music erprobt hatte, ging es hier um eine Liebesgeschichte zwischen Schwarz und Weiß.

Was mein Verwickeltsein ins Sammeln betrifft, das Fareed dazu brachte, meine Verwicklung in dieses Projekt des Künstlerhauses vorzuschlagen: obwohl es mir viel philologische Freude bereitet, all die verschiedenen 28 eingespielten Versionen zu vergleichen, werde ich nicht versuchen, diese Art liebster Dinge hier zu vermitteln; das hieße, Abstraktion auf Abstraktion zu häufen und nicht genügend wahrnehmbare Distanz zwischen dem Original und den Anwendungen für einen bi-nokularen Effekt zu bieten. Ich wähle hier einfach mein liebstes liebstes Ding aus: das Newport Jazz Festival 1963; aus der mittleren Periode, und was auch immer alles an Gutem aus der zunehmenden Abstraktion der späteren Versionen zu ziehen sein mag; diese Versionen sind schlussendlich zu atomisiert und die lyrische bi-nokulare Spannung wird eingetrübt, homogenisiert und geht verloren. Newport war die erste Live-Version, die ich gehört habe, lange bevor ich das Verlangen verspürte, sie alle zu sammeln. Es gibt eine Stuttgarter Version aus dem selben Jahr und es hätte mich glücklich gemacht, dieses Stück historischer Verwicklung ins Künstlerhaus zurückzubringen, doch diese Bootleg-Aufnahme ist von schlechterer Qualität, die Version hat weniger Schwung, und ist nicht wirklich meine liebste.

Ich war in jener Nacht des 17. Juli 1963 erst fünf Jahre alt und nur 35 Meilen von diesem Auftritt in Newport entfernt: Habe ich draußen im Abendlicht des Juli gespielt? War es heiß, war es schwül in dieser Nacht in Providence, in Newport, in Rhode Island? Habe ich schon geschlafen? Vielleicht habe ich schon geschlafen oder bin gerade eingeschlummert. Hat damals Musik gespielt, die nicht wie in Potters Singing Detective die Treppen hochkommt (wir hatten ein modernistisches Haus und mein Schlafzimmer war im Erdgeschoss), sondern die wie in Benjamins Berliner Kindheit unter der Tür durchkam? Welche Musik auch immer außerhalb und unter der Tür meines Schlafzimmers erklungen sein mag; es war nicht die Musik Coltranes, die in unserem Haus gespielt wurde, wir hatten noch nicht mal eine Hi-Fi-Anlage, nur einen älteren Plattenspieler für die damals schon alten 78er: Leadbelly, Woody Guthrie, Talking Union, Six Songs for Democracy, Marlene Dietrich, Gilbert and Sullivan, Gershwin, Jazz at the Philharmonic, Mozart, Beethoven, Bach, — Pop und die Broadway-Musicals und Rock kamen später.



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