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16 / 11 / 02 – 15 / 12 / 02
Exhibition / Films / Talks / Performance

Les Maītres Fous
Farbe, 16mm, 35 min (1955)
Regie: Jean Rouch (F)



Siehe auch Eva Hohenberger:
Die Wirklichkeit des Films. Dokumentarfilm
Ethnographischer Film -Jean Rouch.
1988

English

Les maītres fous ist ein herausragendes Werk, das auch innerhalb von Jean Rouchs Entwicklung als Regisseur und im Bereich ethnografischer Filmpraxis eine Schlüsselrolle spielte. Der Film beschäftigt sich mit dem jährlich stattfindenden Ritual des Hauka-Kults, der seinen Anfang in den späten Zwanzigerjahren in Niger nahm. Wegen der Verfolgung durch die französische Kolonialregierung, und von orthodoxen Islamisten denunziert, gingen in den Dreižigerjahren viele praktizierende Anhänger des Kultes nach Ghana, um dort als Wanderarbeiter in der Goldküstenregion zu arbeiten. Die Hauka sind "die neuen Götterī, Geister der Macht und des Windes. Während der Zeremonien werden die Initiierten von diesen mächtigen Geistern besessen, die als Autoritätsfiguren der westlichen Kolonialverwaltung in Erscheinung treten (der Gouverneur-General, der Admiral etc.). Nachdem sie in einen Trancezustand verfallen sind, nehmen die Initiierten diese Rollen an und benehmen sich wie diese weižen Autoritäten. Die Mitglieder des Kults entwickelten auch eine ganz bestimmte Form von Pidgin, das einzigartig war und nur ihm Rahmen der Zeremonien gesprochen wurde. Nach der Unabhängigkeit von Ghana kehrten die Hauka in ihre ursprüngliche Heimat zurück, und der Kult verschwand mit der Zeit. Der Film zeigt eine Hauka-Zeremonie, in der die Teilnehmer besessen werden, und ein Hund rituell geopfert und verspeist wird. Der Film beinhaltet auch Aufnahmen der westlichen "Figuren", deren Macht die Hauka-Götter personifizieren. Die These, die Rouch in seinem Kommentar zum Film aufstellt, besagt, dass das Ritual eine therapeutische Rolle im Leben dieses marginalisierten und unterdrückten Volkes spielt, und ihm die Möglichkeit verschafft, die psychologischen Probleme, die der Kolonialismus erzeugt, zu verarbeiten. Am Ende des Films sieht man die Hauka-Priester bei ihrer Arbeit im Straženbau oder auf den Märkten von Accra. Der Kommentar versucht, eine anthropologische Erklärung/Begründung für die "bizarre" oder "exotische" Natur des Filmmaterials zu geben, indem die Schwerpunkte so verschoben werden, dass es nunmehr die Kolonialverwaltung ist, die plötzlich bizarr und irrational erscheint.

Die Wurzeln der Hauka gehen auf traditionelle Besessenheitskulte zurück, die unter den Bevölkerungsgruppen der Songhay und der Djerma in Niger verbreitet waren. Ausgewählte Männer und Frauen verfallen in einen Trancezustand und werden von einer Anzahl von Göttern besessen, darunter Dongo, der Gott des Donners und des Himmels. Die Götter werden von anderen konsultiert und erhalten Ratschläge für ihre Probleme, Heilmittel für Krankheiten, Trost und Unterstützung, werden aber auch für unrechte Handlungen bestraft. So wie diese traditionellen Kulte koexistierte auch der Hauka-Kult mit dem Islam, und inkorporierte viele islamische Heilige und Helden in seine Rituale. Die meisten seiner Anhänger waren Muslime.

Hauka trat erstmals in Niger auf — so wird es erzählt —, in der Person eines ehemaligen Soldaten, der an den schweren Kämpfen der zweiten deutschen Offensive im Ersten Weltkrieg in den Jahren 1917/18 teilgenommen hatte, und in der die westafrikanischen Truppe trotz ihres erbitterten Widerstands schwere Verluste hinnehmen mussten. Dieser Soldat trat die traditionelle Pilgerreise nach Mekka an, und kehrte in den Zwanzigerjahren nach Niger zurück. Nach Rouchs Erzählung "zelebrierten die Bewohner seines Dorfes einen traditionellen Tanz, und plötzlich war der Soldat auf aužergewöhnliche Weise "besessen", und während seiner Besessenheit sagte er, "Ich bin die Vorhut der neuen Götter, die aus Malia (Rotes Meer) kommen. Mein Name ist Gouverneur Malia, und ich bin der erste der neuen Götter, die kommen werden, und sie sind Götter der Stärke".ī

Der Kult wurde von der französischen Kolonialmacht in Niger sehr schnell unterdrückt. Dies geschah auch mit Unterstützung der traditionellen Stammeshäuptlinge und Priester, von denen die Popularität dieser neuen Bewegung und die Herausforderung an die Autoritäten, die sie darstellte, gefürchtet wurde. Aber der Hauka-Kult verbreitete sich sogar innerhalb der Gefängnismauern weiter, und im Jahr 1935 versuchte die britische Verwaltung in Ghana erneut, ihn zu unterdrücken und seine Anhänger ins Gefängnis zu bringen. Daraufhin brachen Unruhen und Feuersbrünste in Accra und Umgebung aus. Es kam zu einer Vereinbarung, die besagte, dass Hauka-Priester ihre Zeremonien nur an bestimmten Orten und nur an Samstagen und Sonntagen abhalten durften. So war es auch noch im Jahr 1954 der Fall, als Jean Rouch Les maītres fous aufnahm. Der Film wurde von der Kolonialregierung 1955 verboten.

Die Bewegung des Hauka-Kults war ein Phänomen der Kolonialzeit. Nach der Unabhängigkeit von Ghana 1957 liežen die Migrationsbewegungen nach, und viele Haukas, die sich in Accra niedergelassen hatten, kehrten nach Niger zurück. Niger selbst wurde drei Jahre später unabhängig, und in Folge verschwand der Hauka-Kult und integrierte sich in das traditionelle religiöse System. Dongo zum Beispiel, der alte Gott des Donners, wird jetzt als Vater der Hauka betrachtet. Wie Rouch sagte, "Es gab keine Kolonialmacht mehr, und es hatte nie einen Hauka gegeben, der Kwame Nķkrumah hiež." Die gefilmten Ereignisse stellen bereits das Ende der Hauka-Bewegung dar.

Rouch wurde von einer Gruppe von Hauka-Priestern gebeten, den Film zu machen, die während eines Vortrags anwesend waren, den er und seine Frau Jane im British Council in Accra hielten. Die meisten der Priester und Eingeweihten kamen aus der Gegend des oberen Niger, wo die Kurzfilme, die Rouch während seines Vortrags zeigte, aufgenommen worden waren. Sie sprachen ihn an und baten ihn, einen Film über ihre jährliche Zeremonie zu drehen. Sie wollten diesen Film nicht nur als Dokumentation der Zeremonie, sondern auch zur Verwendung innerhalb des Rituals. Während er sich in Accra aufhielt, besuchte Rouch mehrere kleinere Zeremonien, und erhielt am 15. August 1954 ein Telegramm der Priester, dass er aus Togo zurückkehren sollte, da die grože Zeremonie in Bälde abgehalten werden würde.

Der Film wurde mit einer handbetriebenen Bell&Howell 16mm Kamera aufgenommen, die 25 Sekunden-Aufnahmen erlaubte, und wurde weitestgehend in der Kamera geschnitten. Für den Ton war DamourČ Zika verantwortlich, einer der ersten Afrikaner, mit denen Rouch sich während seiner ersten Reise in Kriegszeiten befreundete. Er verwendete ein Scubitophon, ein tragbares, jedoch sehr schweres Tonaufnahmegerät, das einen eingebauten Motor besitzt, der zwischen den Einstellungen wie ein Uhrwerk aufgezogen werden musste.

Bei seiner Erstaufführung in Paris wurde der Film heftig kritisiert. Unter den Zuschauern befanden sich viele schwarze Studenten, die Rouch vorwarfen, dass er stereotypische Klischees des "Wildenī vorführte. In den britischen Kolonien Afrikas wurde der Film wegen seines "aufrührerischenī Inhalts verboten. Jean Genets Theaterstück "Die Negerī — in dem die Kolonisierten die Rollen der Kolonialherren annehmen — war stark von Les maītres fous beeinflusst, und der Regisseur Peter Brook nutzte den Film während seiner Proben zu Marat/Sade als Modell und Vorlage für die Schauspieler.

Dennoch: Wie Rouch in einem Interview in CinČaste erwähnt, waren die Formen der Besessenheit für die Kultmitglieder kein Theater, sondern stellten eine Wirklichkeit dar. Im Film selbst wird die Bedeutung dieser Realität nicht vollständig erklärt, obwohl — wie gesagt — Rouch in seinem Kommentar eine psychologische Funktion des Rituals nahelegt, die den Haukas erlaubte, ihrer Arbeit nachzugehen und eine entwürdigende Situation mit Würde zu ertragen. Dieses Verhältnis des Hauka-Kultes zur kolonialen Erfahrung stellt möglicherweise das faszinierendste Thema dieser Zeremonie dar, in der die Unterdrückten für einen Tag in die Rolle der Mächtigen schlüpfen. Rouch verteidigte seinen Film nicht nur auf Grundlage seiner ethnografischen Authentizität und mit dem Anspruch, Film als Medium zur "Beschreibung" einer Zeremonie einzusetzen (innerhalb derer viele gleichzeitige Prozesse ablaufen, die zum Beispiel durch Sprache allein nicht adäquat vermittelbar sind), sondern auch in Bezug auf seine spätere Filmpraxis, da der Film sich spezifisch auf die Vermischung der Kulturen und die psychologischen Auswirkungen des Kolonialismus konzentriert. Im Gegensatz zu den meisten ethnografischen Filmen — darunter auch Rouchs frühe Kurzfilme — konstruiert Les maītres fous in keiner Weise das Bild einer afrikanischen Kultur, die angeblich eine abgeschiedene Sphäre darstellt,  und sich als unbeeinflusst vom Westen zeigt.

Während der Zeit, in der Les maītres fous entstand, arbeitete Rouch auch an verschiedenen Studien zu Wanderbewegungen in Westafrika, die unter anderem im Journal de la SocietČ des Africanistes (no. 26, pp. 33 — 1996. 1956) unter dem Titel Migrations au Ghana (Gold Coast)-Enquite 1953-55. Im Jahr 1954 begann Rouch mit den Arbeiten am Film Jaguar, der erst 1967 fertiggestellt und veröffentlicht wurde. Um der Gröže dieser Ereignisses — den saisonbedingten Wanderbewegungen der Songhay aus Niger nach Ghana und an die Elfenbeinküste — gerecht zu werden, wurde es notwendig, zu den Mitteln der Fiktion zu greifen, und mit Schauspielern zu arbeiten (DamourČ Zika, Lam Ibrahim Dia, Illo Gaoudel, alles Freunde von Rouch und selbst auch Migranten). Rouch hatte bei einer Gelegenheit bemerkt, dass die Fiktion ihm erlaubte, eine Geschichte so zu erzählen, dass ihre wichtigen Aspekte herausgearbeitet wurden, während man in einem ethnografischen Dokumentarfilm "gezwungen ist, fast alles zu zeigen". Der fertige Film beschäftigt sich mit Veränderungen in den Migrationsmustern in Bezug auf eine sich ebenfalls transformierende politische Situation.

 

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