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16 / 11 / 02 – 15 / 12 / 02
Exhibition / Films / Talks / Performance

pharmacie
framerec 2002

Kontakt zwischen Mensch und Raum herstellen ist produktive, gestaltende Handlung, ist kulturelle Tätigkeit, ist Einrichten in der Welt. Dennoch kann es ungeplant, unkontrolliert und ohne Gestaltungsabsicht geschehen, nicht weil Menschen ohne Ambitionen am Werk wären, sondern weil dieses Einrichten auch Prozessen von hoher Eigendynamik folgt. Dann zum Beispiel, wenn Mieter an der Fassade eines grossen Sozialbaus Satellitenschüsseln anbringen und so die formale Strenge des Architekten mit verstreuten Tupfen überziehen. Oder wenn sich Geschäftsstrassen in Zeichen-Schluchten verwandeln, Architektur unter Leuchtreklamen verschwindet und Schrift Oberfläche, Aussage Fassade, Text Stadt wird.

Der Vorschlag ist, einen solchen Vorgang Akzidensgestaltung zu nennen. Akzidensgestaltung im Sinne des Uneigentlichen, des Unbeabsichtigten, dessen, was hinzukommt, was niemand vorhergesehen oder kalkuliert hat. Nicht selten bedeutet es die Auflösung alter Muster und die Geburtsstunde neuer. Sitzbezüge in U-Bahnen zum Beispiel, die gegen Filzstift-Tags resistent sind, weil sie schon von vornherein aussehen, wie mit Filzstift bekritzelt. Oder neu angelegte Wege in einem Park, die endlich den Trampelpfaden folgen, die die Fussgänger zur Abkürzung benutzen.

Akzidensgestaltung trägt prägnant zum Bild des Urbanen bei. Wir erleben international, wie ganze Stadtgebiete unabhängig von formeller Planung Form werden. Plötzlich verkörpern Gebilde oder Situationen, die unerwartet Raum greifen, dicht und konkret Möglichkeiten urbaner Zukunft. Neue Bewegungsformen entstehen, bestimmt durch Zugehörigkeit und Ausschluss. Selbstdefinierte Gruppen besetzen Flächen und machen sie zu ihren Zonen. Brachgelände werden kulturelle Zentren, während sich das geplante Zentrum fragmentiert. Körperhaltungen und Verhaltensweisen beispielsweise, die zuvor unbekannt waren, prägen das Bild, wo Menschen mobil telefonieren oder SMS senden und empfangen, während sich auf Dächern und entlang der Autobahnen Skulpturen ausbreiten, die den Visionen eines Nicolas Schöffer entsprechen, um die Kommunizierenden in Verbindung zu halten.

”pharmacie” ist eine Detailbeobachtung in diesem Zusammenhang: Überall in Frankreich pulsieren hysterisch leuchtende Apothekenzeichen als weithin sichtbare Orientierungsmarken. Indem sie für kein spezifisches Produkt werben, werden sie zum Ausdruck der Situation, dass ständig Krankheit oder Verletzung drohen - und hier Hilfe zu haben sei. Stärker als Beruhigung signalisieren sie Nervosität und Überreizung. Doch gegen Jahresende tragen sie mit ihren blinkenden Kreuzen auf ganz eigene Weise zur weihnachtlichen Dekorationsbeleuchtung bei. ”pharmacie” verdichtet die unruhigen Bilder zum Superzeichen, welches Neon-Irrlicht und Heil-Versprechen zusammen fliessen lässt.


Im Rahmen der Ausstellung >redirect läüft "pharmacie" an prominenter Stelle im Stadtraum, Ecke Tübingerstrasse/Eberhardstrasse, im Schaufenster von "Abseits" auf einer Videowand aus 9 Monitoren

aufnahme: rené straub. framerec
schnitt: ella raidel. framerec
musik: maex decker. Jomasounds

framerec 2002


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