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16 / 11 / 02 – 15 / 12 / 02
Exhibition / Films / Talks / Performance

Rainer Kirberg präsentiert:
ein Prozess - die Strafsache gegen Herrn Noethen
durchgeführt von Rechtsreferendaren der Staatsanwaltschaft Frankfurt
unter der Leitung von Matthias Mackenthun, Staatsanwalt beim Landgericht Frankfurt am Main

Konzept und Realisierung: Rainer Kirberg (D)
nach einer Idee von Fareed Armaly
entwickelt im Rahmen des M/SOS Workshops im Künstlerhaus Stuttgart
im Juni / Oktober 2001.

English



Inszenierung von ein Prozess - die Strafsache gegen Herrn Noethen, Juni 2002 - Alle Abb. © MURAT

In einer szenischen Aufführung, die eine Ausbildungsveranstaltung der Frankfurter Staatsanwaltschaft der Öffentlichkeit zugänglich macht, zeigt Rainer Kirberg für haus.0 einen authentischen Fall aus der deutschen Rechtsprechung.
Im Unterschied zu einem populären 'real-life'-Fernsehformat, der Gerichtsshow, zeigt haus.0 mit ein Prozess - die Strafsache gegen Herrn Noethen nicht simulierte Realität, sondern reale Simulation. Das Exerzieren der Abläufe vor Gericht gehört bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt zur praktischen Berufsvorbereitung der Rechtsreferendare, die in dieser Übung die Rollen der Verfahrensbeteiligten - Richter, Staatsanwalt, Verteidiger, Angeklagter, Zeugen - einnehmen und einen aktenkundigen Rechtsfall bis zur Urteilsfindung durchspielen.
Der ausgewählte Fall wurde in der Rechtspraxis als 'nicht justiziabel' eingestuft. Die Gründe hierfür werden in der Simulation des Verfahrens deutlich. Sie beleuchten ein spezifisches Dilemma des Rechts als normativer Macht, wenn es darum geht, ein juristisch nicht vordefiniertes Segment gesellschaftlicher Realität mit den Mitteln der Rechtsprechung zu besetzen.
Zugleich öffnet ein Prozess - die Strafsache gegen Herrn Noethen den Blick auf einen kulturell-ökonomischen Sektor, in dem die doppelte Existenz des Menschen als Sozial- und Naturwesen materiell wird: das Bestattungswesen.
Über das Juristische hinaus wird in diesem Prozess also ein weit reichender Kontext rechtsphilosophischer und ontologischer Fragen berührt.
ein Prozess - die Strafsache gegen Herrn Noethen wurde im Rahmen der MSOS Workshops entwickelt, die haus.0 im vergangenen Jahr initiiert hat. Diese Workshops arbeiten in offen diskursiver Form an script-basierten Strategien der sozialen und politischen Repräsentation. Im Rahmen der MSOS Workshops fanden bereits Präsentationen von Peter Weiss' Marat/Sade und Peter Watkins' Punishment Park / La Commune statt.

Abb. links: Staatsanwalt Matthias Mackenthun, rechts: Rainer Kirberg

Abb.:Einvernahmen der ZeugInnen und des Angeklagten

Auszug aus der Vernehmung Noethen:

Ich möchte – nachdem ja jetzt alles heraus ist – Angaben machen.
Ich arbeite seit dem 1. 1. 2000 im Städtischen Krematorium. Meine Aufgabe besteht darin, den Sarg mit Inhalt der Verbrennung zuzuführen, anschließend die Asche unter dem Schüttelrost einzusammeln, abzufüllen und zu beschriften etc., sowie den ganzen Verwaltungskram dann zu erledigen. Ausser mir ist dort noch ein Techniker beschäftigt, eine halbe Verwaltungskraft und der Hausmeister. Ich arbeite also ziemlich selbständig und und unüberwacht. Schon sehr bald kam ich auf die Idee, die schön, aufwendig und kunstvoll gefertigten Särge nicht zu vernichten. Wissen Sie, für mich war das richtig belastend, jeden Tag nur zu vernichten, was andere sorgsam und mühselig gefertigt haben. Das sind ja Werte, und auch Werke – fast KUNSTWERKE. Und dann sieht man diese Bilder von den zurückgehenden Wäldern, von Umweltbelastungen durch Abgase und Qualm. Meine Arbeit kam mir dann richtig unökologisch und auch unökonomisch vor.
So entschloss ich mich, im Februar 2000 schon, abends den Sarg in meinen Kombi zu laden – am Besten im Dunkeln – und ihn zur Schreinerei Kunz zu bringen. Die Dinger waren ja wie neu. Und ob der Verblichene mit oder ohne Kiste die Rutsche "ins Fegefeuer" bewältigt, das ist doch egal. Die Angehörigen wissen ja nicht einmal, wie das bei uns normal zugeht. Denen ist das doch egal. Und den Toten ja ohnehin. Versteht sich doch von selbst, oder?
Nun ja, die Särge wurden dann beim Kunz noch mal überpoliert und dann für 4000,- DM im Schnitt – üblicher Preis heute – verkauft, richtig so mit Mehrwertsteuer, Rechnung und so. Hat dem Kunz nur halt viel Arbeit gespart, und natürlich das ganze Material, Holz, Lacke und so. Und der Erlös wurde zwischen uns geteilt.
Ich denke nicht, dass ich mich da strafbar gemacht haben kann, was soll das denn sein. Waren doch alle zufrieden.
Es ist richtig, dass ich zweimal mit so ‘nem Sarg hinter mir im Auto kontrolliert worden bin. Das war Karfreitag 2001 und dann noch mal am 1. Juli 2001 – da ist mir so ein Heini reingefahren in das Auto. Die letzten Särge habe ich in den Fällen Arndt und Hoeriz "geklemmt".

Selbst gelesen, genehmigt, und unterschrieben: Noethen




Installationsansicht in der
>redirect-Ausstellung (2002)

 

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