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16 / 11 / 02 – 15 / 12 / 02
Exhibition / Films / Talks / Performance

Interview mit Noël Burch
Mai 2002

Noël Burch Biography
What do those Old Films Mean?
Red Hollywood
Rome is burning (Portrait of Shirley Clarke)

English

CR: Welche Motivation stand zu Beginn hinter dem Wunsch, Filmemacher und Autor/Filmtheoretiker zu werden?

NB: Ich begann, Film zu studieren, da es meine Berufung war, Filmemacher zu werden. Aus diesem Grund entwickelte ich schon im Alter von 19 – ich ging noch zur Schule – diese Idee, dass das Kino eine Art von musikalischer Form darstellt. Dieser Idee ging ich schließlich in meinem ersten Buch, Theory of Film Practice, eingehender nach – das ist eigentlich das bekannteste Buch. Grundsätzlich geht es darum, dass das, was in einem Film zählt, die mise-en-scène ist, und dass die Narration/die Geschichte eigentlich nur eine Art von praktischer Unterstützung darstellt, die sonst überhaupt keine Bedeutung besitzt.

Wie auch immer man zu dieser These steht – ich schrieb also dieses Buch, es wurde publiziert, und 1968 radikalisierten sich meine politischen Ansichten. Es entstand daher eine gewisse Spannung zwischen diesem formalistischen Zugang (des Buches), und den Anfängen meiner politischen Radikalisierung. Aber damals war es hier (in Frankreich) leicht, diese beiden Positionen miteinander zu versöhnen, denn es gab diese Sache, die sich ”revolutionärer Formalismus” nennt. Das ist eine alte Geschichte, die im Prinzip auf der Idee beruht, dass Kunst die Revolution allein durch die Form herbeiführt. Es gab alles Mögliche damals, Tel Quel und all diese Magazine, und Vorlesungen zu dem Thema usw. So konnte ich also Formalist bleiben, und trotzdem Kommunist sein – ich war viele Jahre lang Kommunist, bin es heute noch, aber ich bin kein Parteimitglied mehr. Dann entschied ich mich für den nächsten Schritt, die zweite Phase dieses Unterfangens. Ich hatte damals schon das japanische Kino entdeckt, in der Cinematheque Française liefen damals viele japanische Filme – ich hatte also das japanische Kino entdeckt, und fand das auf eine neue Art aufregend, um einen anderen Zugang zum Kino zu gewinnen. Also ging ich für eine Weile nach Japan und schrieb dieses Buch, To the Distant Observer. Ich sah mir praktisch alle Filme an, die man damals sehen konnte – es sind in der Zwischenzeit viele weitere entdeckt worden –, und ich begann, eine Theorie zu entwickeln, die besagte, dass Japan im Prinzip eine formalistische Kultur ist; das ist natürlich in gewisser Hinsicht nicht ganz falsch. Ich wollte zeigen, dass das japanische Kino eine Form des radikalen Kinos darstellte – zumindest sah ich das damals so –, vor allem in Hinblick auf den Westen, auf Hollywood und das westliche Kino, das auf Erzählung und Unmittelbarkeit beruht, und so weiter. Es wurde so eine Art Utopie ... und weil all diese Dinge sich irgendwie überschnitten, begann ich mit einem weiteren Buch, bevor ich To the Distant Observer fertiggestellt hatte. Ich brauchte ungefähr fünfzehn Jahre, um es zu schreiben. Es beschäftigte sich mit dem ”Primitiven Kino”, denn das der Begriff des ‘Primitiven’ stellte sozusagen eine andere Utopie dar; es ging um das frühe Kino der Ära vor Griffith, also zu einer Zeit, bevor die Sprache des Kinos formuliert wurde. Es gab diesen Raum, in dem Dinge geschahen, die bestimmten Formen von Avante-Garde-Praxis nahekamen, und das interessierte mich damals ganz ungemein, so wie auch die westliche Avant-Garde und das japanische Kino.

CR: Wie wurde To the Distant Observer in Japan rezipiert?

NB: To the Distant Observer erschien niemals in Japan. Um ehrlich zu sein, muss ich sagen, dass ich den Dialog mit Japan für sehr schwierig halte – auch darum geht es ein bisschen in meinem Buch ... Es gibt zwischen Japan und dem Westen hinsichtlich philosophischer und ideologischer Aspekte ganz fundamentale kulturelle Missverständnisse. Darüber sprach überhaupt nie jemand. Als ich in Japan war, sprach ich mit vielen Intellektuellen, darunter auch solche aus dem Filmbereich – das Buch war nie ein Thema. Die Ausnahme bildeten einige wenige, die sich ganz profund mit dem ganzen französischen Zeug beschäftigten – ich nehme an, sie hatten wohl ihre eigene, irgendwie mystische Vorstellung von ihrem Land – Oshima zum Beispiel –, und es gab auch noch diese andere Form, so eine Art sehr pragmatischen Realismus. Nichts von all dem muss nun unbedingt so stimmen, aber sicherlich lebte man dort in diesem ‘Reich der Zeichen’, wie Barthes es genannt hat ... Die intellektuelle Barriere zwischen Japan und dem Westen ist absolut enorm ... das gilt zumindest für mich. Vielleicht trifft das in Hinblick auf die Wissenschaften nicht zu, aber was den tatsächlichen Austausch betrifft ... das funktioniert kaum. Ich glaube auch nicht, dass es so etwas jemals geben wird, und irgendwie ist das natürlich auch faszinierend. Es hat mit Sprache zu tun, mit der Struktur der Sprache ... Mein Buch wurde im Westen heftig angegriffen, auch wegen dieses ‘Kulturalismus’, den es vertritt.

Dennoch bin ich der Ansicht, dass dies nicht nur für Japan zutrifft, sondern auch in anderen Fällen. Beispielsweise ist die Kluft zwischen diesem Land hier (Frankreich), und den USA einfach enorm. Ich kenne das sehr gut, denn ich bin sozusagen bi-kulturell, zwischen beiden Kulturen. Zum Beispiel gibt es hier überhaupt kein Verständnis für das Hollywood-Kino, und in den USA interessiert man sich ebenfalls überhaupt nicht für französische Kultur, französisches Kino und so weiter. Es gibt da diese Illusion von ‘einer Welt’, und all dieses Internet-Zeug ... das sind alles bloß Illusionen.

Seit ca. 1980 – und heute in noch verstärktem Maß, zumindest in Europa – gibt es eine Form des Rückzugs von der Bedeutung, und das halte ich – auch aus der Perspektive eines Angehörigen meiner Generation, in meinem Alter – für sehr schwierig. Bücher wie To the Distant Observer wurden im Zuge dieses Bedeutungsschwundes sehr modisch. Dennoch, als es erstmals erschien, wurde das Buch heftig attackiert – auch absolut gerechtfertigter Weise – es gab einen langen Artikel in Les Temps Modernes, der überaus kritisch mit dem Buch umging. Damals war ich irgendwie ‘out of synch’, nicht im Einklang mit der Welt. Ich war nicht wirklich politisch engagiert, also hatte ich kein echtes Verständnis von dem, was ich tat. Von 1981 an verbrachte ich einige Jahre in den USA, um herauszufinden, ob ich es dort aushalten würde – ich hielt es nicht aus –, und ich kehrte nach Frankreich zurück, als mir eine Wiederauflage von Theory of Film Practice angeboten wurde. Es gab in Frankreich diese grundlegenden ideologischen Richtungswechsel, das war ca. 1980/81, ein plötzlicher Ruck nach rechts. Die französische Intelligentsia entschied sich plötzlich dafür – ich vereinfache das jetzt -, eine radikale Veränderung durchzumachen, und plötzlich beschäftigten sich alle nur noch mit formalistischen Themen.

CR: Dann entstand das dritte Buch, Life to those Shadows

NB: Das ist kein Buch, hinter dem ich hundertprozentig stehe. Aber wegen diesem Buch wurde mir zunehmend klarer, dass mit dieser ganzen Idee vom Primat der Form irgendetwas nicht stimmte. Dieses frühe Kino, Prä-Kino, war ein interessanter Gegenstand für eine akademische Untersuchung dominanter Formen der Repräsentation. Ich habe das damals ‘Institutional Mode of Representation’ genannt. Während ich an dem Buch arbeitete, machte ich also sozusagen eine inhaltliche Veränderung durch, das ist dem Buch auch anzumerken, und es scheint deshalb ein wenig bizarr.

CR: Wie stellt sich die Entwicklung und das Verhältnis der Disziplin der Film Studies in England und den USA aus heutiger Sicht dar, und was für ein Arbeitsfeld ergibt sich für einen Autor und Filmemacher, der zwischen den USA und Frankreich operiert?

NB: Hier liegt eine paradoxe Situation vor. Das echte Paradox ist für mich die Tatsache, dass Film Studies in den USA – in England auch, aber besonders in den USA – sich nach 1980 sozusagen unter fast völligem Ausschluß der Frauen entwickelt haben. Ich beziehe mich meistens auf Frauen, nicht nur im Bereich der Film Studies, sondern auch in der Kunstgeschichte; praktisch in Hinblick auf jeden intellektuellen Gegenstand, der für mich von Bedeutung ist. In den USA gibt es in dieser Hinsicht eine etwas kongenialere Atmosphäre. Ich bin oft in die USA gefahren – jetzt habe ich damit aufgehört, aber in den letzten paar Jahren habe ich immer wieder dort unterrichtet. Es besteht dort ein größeres Interesse an den Themen, mit denen ich mich beschäftige — Gender, Repräsentationsformen, Orientalismus und so weiter. Letztes Jahr habe ich in Los Angeles einen Kurs zum Thema der Repräsentation von Arabern im amerikanischen Kino abgehalten. Es ist paradox, denn andererseits sind die USA für mich ein Feind, und es fällt mir sehr schwer, dort zu sein, ich finde es sehr schwierig, mit dieser Welt dort umzugehen. Gleichzeitig bin ich hier zu Hause, ich habe enge Beziehungen zur französischen Zivilgesellschaft, und hier in diesem Land ist die Politik noch lebendig. Man hat ein Bewusstsein von den Dingen, die vor sich gehen. Andererseits stellt der formalistische Modernismus die offizielle Ideologie dieses Landes dar. Die Regierung gibt jedes Jahr Unsummen für Institutionen wie Beaubourg aus, und so weiter. Es ist eine sehr schwierige und widersprüchliche Situation.

CR: Was stellt in Ihren Augen den spezifischen Zugang dar, den Sie nicht nur als Theoretiker, sondern auch als Filmemacher zur Filmgeschichte haben? Es gibt da zum Beispiel eine Serie mit dem Titel What Do Those Old Films Mean?, die sich mit dem frühen Kino in sechs verschiedenen Ländern beschäftigt…

NB: Ich war ein Filmemacher. Ich habe mit diesen Dingen begonnen, weil ich keine Filme machen konnte. Mein erstes Buch (Theory of Film Practice) war wirklich ein Buch von jemandem, der ein Buch über die Filme schreibt, die er eigentlich machen wollte, und irgendwie nicht in der Lage ist zu realisieren. Als ich 1967 die Artikel schrieb, die schließlich zu diesem Buch führten, hatte ich die Filmschule schon seit dreizehn Jahren beendet. Ich war Regieassistent gewesen, und ich hatte einige Kurzfilme gemacht, aber ich hatte nicht das Gefühl, dass ich damit irgendwo hin kam. Ich begann dann zu unterrichten, und dadurch begann ich auch mit dem Schreiben. Gleichzeitig gestaltete ich viele Fernsehprogramme. Ich würde sagen, dass es in meinen Filmen hauptsächlich um das Filmemachen geht. Der erste Film, der für mich wirklich von Bedeutung war ... das waren die Beiträge für Cinema de Notre Temps. Wir wollten diese experimentellen Sachen machen – zwischen Essay und Collage, es sollte um die Ideen gehen, die sich in einer bestimmten Art der Filmpraxis finden. Ich versuchte, diese Ideen auch als Filmemacher umzusetzen. Der erste erfolgreiche Film, den ich gemacht habe – nicht kommerziell erfolgreich, aber als Werk – ist ein Film, der Correction, Please heißt. Es handelt sich dabei eigentlich um ein Zusammenfassung meines dritten Buches (Life to Those Shadows). Es geht um die Entstehung der Filmsprache, aber in gewisser Hinsicht handelt es sich auch um einen Avant-Garde-Film, der verschiedene Materialien verwendet: Scripts, Sets, und so weiter. Es ist ein ungewöhnlicher Film – er ist in gewisser Hinsicht didaktisch und entwickelt sich ähnlich wie das Buch. All diese Filme wurden in England produziert, ich verbrachte damals relativ viel Zeit in England, das war zwischen 1979 und 1986, und dort machte ich diese drei wichtigen Filme, alle waren sie sozusagen Collage-Filme. Es gab also diese drei Filme, die direkte Spin Offs von meinem Buch waren, und die auch noch mit meiner modernistischen Periode in Zusammenhang standen.

Zwei dieser Filme sind sehr politisch und persönlich – der zweite Film beschäftigt sich zum Beispiel mit den Suffragetten in England um 1911. Es geht um Gewalt, und darum, wie diese Frauen die Polizei bekämpften. Der Film heißt The Year of the Bodyguard. Ein wirklich sehr persönlicher Film, und einer der ersten, der von The Eleventh Hour in Auftrag gegeben wurde, damals zu den Anfangszeiten von Channel 4. Diese Station produzierte damals ziemlich viel ‘Kunst’, in einem gewissen Sinn. Sie gaben diesen Film in Auftrag, der alles Mögliche miteinander vermischt: Comic Strips, falschen Dokumentarfilm, Archivmaterial und so weiter … das war eine sehr ambitionierte Sache.

Dann machte ich eine Serie – auf diese Serie bin ich wirklich stolz. Sie handelt vom Kino. Für mich war das ein echter Wendepunkt. Ich muß anmerken, dass meine Haupt-”Aufklärung” in den USA stattfand, wo ich zwischen 1979 und 1981 lebte. Ich traf dort Allen Sekula und Thom Andersen, und stellte fest, dass beide politisch hochengagierte Menschen waren. Zu dieser Zeit gab es immer noch politische Aktivitäten in den Vereinigten Staaten, und plötzlich wurde mir klar, was an meinen Ansätzen falsch war. Ich begann zu unterrichten – ich lehrte damals immer noch dieses formalistische Zeug, aber fand es zunehmend lächerlich. Zum Beispiel zeigte ich eines Tages Dreyers Jeanne d’Arc, und ich entwickelte diese ganze Theorie vom ”Spiel” des Filmraums und so weiter. Danach kam ein Student zu mir und sagte, ‘Hey, das ist ein großartiger Film, einfach großartig. Aber können Sie mir etwas erklären? Was will diese Frau eigentlich?’ Also fragte ich die Studenten, wer von ihnen schon jemals etwas von Jeanne d’Arc gehört hätte. Zwei hoben ihre Hand. Und das auch nur, weil sie eine katholische Schule besucht hatten.

Dann kam ich also nach Europa zurück, es gab bereits Channel 4, und ich begann dieses Projekt mit den sechs Programmen, sechs ”Essays” über sechs verschiedene Aspekte zu sechs verschiedenen nationalen Kinos – Dänemark, Deutschland, Amerika, Frankreich, das frühe Kino dort vor allem, das meiste vor dem Ersten Weltkrieg entstanden ... das Rußland der Zwanzigerjahre. Ich behandelte immer ganz spezifische Aspekte, beispielsweise Sexualität im dänischen Kino, Klassenverhältnisse im englischen Kino und so weiter. Das war eine sehr erfolgreiche Sache, und die Serie sollte fortgesetzt werden, aber das scheiterte an der Finanzierung. Paradoxerweise gibt es heute hier in Frankreich einige Leute, die versuchen, diese Serie als Filmversion zu adaptieren. Sie interessieren sich allerdings nur für die formalen Aspekte, sie verstehen ansonsten nichts davon. Das ist ein Problem.

CR: Sind Sie der Meinung, dass Filmemacher mit ihren Werken auch politischen Einfluß ausüben können? Welche Rolle spielt der Film in der Gesellschaft als kritisches Instrument, als politisches Werkzeug?

NB: Meine Filme sind seit über zwanzig Jahren ihrem Wesen nach zutiefst politisch, wann und wo auch immer sie gezeigt werden. Meistens liefen sie im Fernsehen, auf Arte. Und dann sehen also so Leute wie ich diese Filme, dieses Programm, und denken, ‘Wow, das ist wirklich fantastisch, da gibt es jemanden, der Filme macht, die einem Mut machen’ – das ist so, wie wenn man auf eine Demo geht, und Leute trifft, die ähnlich empfinden und denken – und das ist sehr gut so, deshalb geht man da auch hin, um die Batterien gewissermaßen wieder ideologisch aufzuladen.

Dennoch muss ich sagen, dass ich niemals durch eine Fernsehserie oder durch einen Film wirklich zu irgendetwas bekehrt worden bin. Man entwickelt politisches Bewusstsein durch einen Kampf, in einem Streik, indem man eine Fabrik besetzt, oder auf die Straße geht. So wird man politisiert, und nicht, indem man Dinge im Fernsehen anschaut. Dazu braucht es eine Art von kollektiver Aktivität. Meiner Meinung nach hat Kunst überhaupt keinen politischen Effekt, den man in irgendeiner Weise messen könnte. Kunst macht andere Sachen, was auch immer, ich weiß es nicht. Das ist eher eines der großen Alibis der Kunst, wenn man so will …

Die Sachen, die auf Arte laufen zum Beispiel, erreichen nicht unbedingt die Leute, die sie erreichen sollen. Das ist also auch ein Problem – wer sieht zum Beispiel in Amerika die Filme von Michael Moore? Er ist ganz offensichtlich fantastisch, er ist absolut klar und direkt, er begreift alles, er hat gerade diesen neuen Film gemacht ... Michael Moore ist großartig, aber seine Bücher sind bekannter. Sein letztes Buch, Stupid White Men, war wochenlang Nummer Eins auf der Bestsellerliste der NY Times. Er ist außergewöhnlich, und nichtsdestotrotz kennt fast niemand die Sachen, die er fürs Fernsehen macht, obwohl er das seit vielen, vielen Jahren tut, manchmal läuft das sogar hier In Frankreich, auf manchen Kabelkanälen.

Wenn man sich ernsthaft mit seinen Programmen und Filmen beschäftigt, versteht man alles, was mit Amerika nicht stimmt, und was Amerika dem Rest der Welt antut. Aber offensichtlich wird das in Amerika nicht rezipiert, denn es ändert sich nichts, niemand begreift das.

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