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16 / 11 / 02 – 15 / 12 / 02
Exhibition / Films / Talks / Performance

Eva Hohenberger (D)
Vortrag: Les Maitres Fous (1954) von Jean Rouche

siehe auch: Auszug aus Die Wirklichkeit des Films.
Dokumentarfilm. Ethnographischer Film. Jean Rouch.

Hildesheim: Olms (1988)




Danke für die Einladung. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, daß ich aus der Film- und Fernsehwissenschaft komme, mich für Geschichte und Theorie des Dokumentarfilms interessiere und mit Kunst relativ wenig zu tun habe. Ich sehe mit Interesse, daß Dokumentarfilme zunehmend im Kunstkontext gezeigt und auch produziert werden, und ich frage mich, warum das so ist. Neben pragmatischen Antworten, daß die Kunst jetzt Geld für Filme gibt, muß es andere Gründe geben, und vielleicht können wir im Anschluß an den Film dieser Frage nachgehen und darüber sprechen, was Sie an diesem speziellen Film interessiert und wie sich dieses Interesse von dem meinen unterscheidet.

Ich habe mich ganz didaktisch dazu entschieden, vor dem Film etwas zu sagen. Der Film selbst ist nicht kompliziert, Sie brauchen von meiner Seite aus keine hermeneutische Hilfestellung. Ich denke aber, es könnte sinnvoll sein, auf verschiedene Kontexte einzugehen, weil das das Sehen interessanter machen könnte, gemäß dem schönen Satz, daß man nur sieht, was man schon weiß.

Im einzelnen möchte ich auf 2 Kontexte eingehen:
Der erste Kontext wäre der werkimmanente, die Frage wäre also; welchen Stellenwert hat der Film im Werk seines Regisseurs, im Werk von Jean Rouch? Hier möchte ich auch eingehen auf ein Konzept, das Rouch aus seiner Befassung mit Phänomenen der Besessenheit entwickelt hat, das Konzept des cinetrance.

Der zweite Kontext wäre der filmhistorische, also ein eher medienspezifischer und die Frage hier lautet: welchen Stellenwert hat der Film im Kanon von Filmgeschichtsschreibung? Hier werde ich auf ein zweites Konzept eingehen, nämlich das des cinéma vérité.

Im Übergang vom einen zum anderen werde ich etwas sagen zur zeitgenössischen Rezeption, die ja keine geringe Rolle dabei spielt, ob etwas in den Kanon aufgenommen wird oder nicht.


1. Kontext Werkzusammenhang
Zu Beginn ganz klassisch ein paar Worte zum Regisseur. Jean Rouch ist 1917 geboren, war zunächst Brückenbauingenieur und dann Ethnologe. Als Ethnologe hat er immer in den zunächst noch französischen Kolonien gearbeitet, in der Elfenbeinküste, in Niger und Mali, und in der britischen Kolonie Ghana. Als Ethnologe ausgebildet, ist Rouch als Filmemacher dagegen Autodidakt.Er ist sein eigener Kameramann, arbeitet meist mit einem indigenen Tonmann und später mit einer Cutterin zusammen. Er hat seit 1947 ca. 130 Filme gedreht, von denen vielleicht 10 filmhistorische Relevanz gewonnen haben. Die überwiegende Mehrzahl seiner Filme ist einer filminteressierten Öffentlichkeit also eher unbekannt.

1954, als LMF gedreht wurde, stand Rouch als Filmemacher noch am Beginn seiner Karriere. Diese entwickelt sich aus dem Zusammenhang von Ethnologie und Film. Die französische Ethnologie stand dem Film durchaus positiv gegenüber und Rouch war einer der aktivsten Promoter für die Nutzung des Mediums im Rahmen der Wissenschaft. 1952 war er Mitbegründer eines Komitees für den ethnogr. Film, das sich um die Finanzierung von Produktionen, die Sammlung von Kopien, um die Vorführung von Filmen und um Praxiskurse für Ethnologen kümmerte. Auch in späteren Texten hat er immer wieder auf die Nützlichkeit des Films für die Feldforschung hingewiesen. Ein zentrales Anliegen war ihm dabei auch eine Demokratisierung seiner Wissenschaft, die er schlicht als das Studium einer Kultur bezeichnete, die nicht die eigene ist. Mithilfe des Films, so Rouch, könne man dem anderen endlich zeigen, wie man ihn sieht, und viele seiner Filme haben erst nach gemeinsamer Betrachtung und Besprechung mit den Gefilmten ihre Form gefunden. So auch LMF, dessen Kommentar in Zusammenarbeit mit einem Mitglied des gezeigten Geheimbundes entstanden ist.

Die zahlreichen Filme von Rouch kann man in drei große Werkgruppen gliedern, von denen zwei ethnisch definiert sind:

1. Die erste bildet sich aus zahlreichen Dokumentationen über eine Ethnie namens Songhay in Niger am Niger. Die Songhai sind quasi Rouchs “Ethnie”, so wie sich klassische Ethnologen eben in der Feldforschung einer spezifischen Gruppe qualifiziert haben. Rouch hat über die Songhay promoviert.
2. Filme über die Dogon in Mali, einer wiederum klassischen Ethnie der französischen Ethnologie, wo sich die Forschung mit den Namen Marcel Griaule und seiner Schülerin Germaine Dieterlen verbindet. Hier drehte Rouch die für Ethnologen besonders interessante Dokumentation eines 7 Jahre währenden und nur alle 60 Jahre stattfindenden Festes, das den Schöpfungsmythos der Dogon inszeniert.
3. Filme zur Problematik von Kulturbegegnung, die Rouch selbst seine “urbanen soziologischen Filme” nennt. Kulturbegegnung meint einerseits das Zusammentreffen verschiedener afrikanischer Kulturen, andererseits das Zusammentreffen afrikanischer und europäischer Kulturen. Zu dieser Gruppe gehören einige seiner bekanntesten, semifiktionale Filme, die er mit Laiendarstellern inszeniert hat: Petit a petit, Jaguar. Moi, un Noir.
4. Um diese 3 zentralen Werk-Gruppen ordnen sich einige Interview-Filme an, gleichzeitig von Rouch geführte und gefilmte Gespräche meist mit Kollegen, Filmemachern und Ethnologen, und dann gibt es noch einige wenige Filme, die in Frankreich spielen, darunter aber der filmhistorisch berühmte Film “Chronique d’un été”, der 1960 zusammen mit dem Soziologen Edgar Morin in Paris entstand.

Schon aus dieser knappen Übersicht läßt sich sehen, daß LMF für Rouch kein besonderer Film ist. Auch er gehört zur Werkgruppe der “urbanen soziologischen Filme”. Sein Entstehungskontext ist unmittelbar wissenschaftlicher Art. Rouch führte in den 50er Jahren Untersuchungen zur Migration durch, vor allem zur Migration aus den ländlichen Nigerregionen in die angrenzenden Staaten und ihre Hauptstädte, in erster Linie nach Accra in Ghana und nach Abidjan in der Elfenbeinküste. LMF ist in Accra angesiedelt und die dargestellten Personen sind überwiegend Songhai aus Niger, stammen also aus der Kultur, die Rouch am besten kennt.

Sujet des Films ist die Zusammenkunft eines religiösen Geheimbundes, der sich in den 20er Jahren in der Nigerregion entwickelt und mit den Emigranten bis an die Küste ausgebreitet hatte. Gezeigt werden 3 Tage (oder mehr) aus dem Leben der Mitglieder dieses Geheimbundes. Im Mittelpunkt steht dabei ein Besessenheitsritual, bei dem Initianten und einige der Mitglieder des Geheimbundes von bestimmten Gottheiten besessen werden, die ihre Vorbilder in Figuren der Kolonialverwaltung haben. Der Titel des Films ist daher doppeldeutig: Die verrückten Meister können sowohl die Meister, also Beherrscher der Verrücktheit sein, also die Besessenen selbst, aber ebenso gut könnte sich der Titel auf die Vorbilder ihrer neuen Götter beziehen, auf die Mitglieder der Kolonialverwaltung, die verrückte Herrscher sind.

Besessenheitsrituale sind nun nicht nur ein klassisches Thema der Ethnologie, sondern nehmen gerade im Werk von Rouch einen besonderen Stellenwert ein. Nach eigenen Angaben, hat er vielen solchen Ritualen beigewohnt und auch einige gefilmt. Am Besessenheitsritual interessiert ihn nicht nur das Vokabular der Gegenstände und Körperhaltungen, das er in seinem Kommentar erklärt, sondern vor allem das Moment der Transformation von Identität. Im Zustand des Trance ist der Besessene nicht mehr er selbst, sondern wird zum Medium eines Gottes, der von ihm Besitz ergreift und seine Eigenschaften durch den Körper des Besessenen zeigt. Diesen Transformationsprozeß hat Rouch später auf den Filmemacher übertragen. Mit dem schönen Begriff des “cine trance” beschreibt er die Verwandlung des Filmemachers im Akt des Filmens, die er mit der Besessenheit analogisiert. So wie die Besessenen nicht mehr sie selber sind, so sei auch der Filmemacher, der sie filme, nicht mehr derselbe,weil alle seine Sinne vom Medium infiziert sind; er sieht nicht mehr mit seinen Augen, er cine-sieht, er hört nicht mehr mit seinen Ohren, er cinehört, er ist, wenn sie so wollen, vom Gott der Filmmaschine besessen.

Diese Idee der Überantwortung von schöpferischer Kreativität an die Maschine oder das Medium knüpft an Vorstellungen der klassischen Avantgarde an, mit denen Sie vielleicht vertrauter sind als ich. Zum einen findet sich hier ein Rekurs auf den Surrealismus, besonders auf die Verfahren der “ecriture automatique”, wie sie im Surrealistischen Manifest von Breton beschrieben werden, wo es eine Überantwortung an das Medium der Schrift gibt. Zum anderen findet sich hier auch ein Rekurs auf den Futurismus und seine Fetischisierung der Technik.


2. Kontext unmittelbare Rezeption
1957 wurde der im Werk des Ethnologen Rouch eher unspektakuläre Film bei den Filmfestspielen in Venedig gezeigt und bekam in einer speziellen Sektion für Dokumentarfilm einen goldenen Löwen. Damit wurde er über Paris hinaus bekannt und berüchtigt. LMF wurde zum Skandalfilm. In Ghana wurde er verboten, französische Ethnologen haben den Film ebenso heftig kritisiert wie Schwarze. Marcel Griaule riet Rouch, den Film zu vernichten.

Einer der wenigen, die den Film lobten, war André Bazin, ein einflußreicher Filmkritiker, Gründer der Zeitschrift Cahiers du Cinéma und Propagandist des filmischen Realismus. Er sah LMF in einem Zusammenhang mit einem Kurzfilm von Chris Marker und Alain Resnais aus dem Jahr 1953, Les statues meurent aussi, in dem es um den durch den Kolonialismus bedingten Verfall afrikanischer Kunst ging. Auch dieser Film war zensiert worden – allerdings im Westen.

Jean Rouch hatte sich also mitten in die Auseinandersetzungen um den Kolonialismus begeben, aber wie ich vermute, eher aus Naivität als mit Bedacht. Er war von den Hauka, so heißt der Geheimbund, eingeladen worden, den Film zu drehen. Er hat ihn auf die ihm eigene Weise (d.h. selbstverständlich in der Kolonialsprache Französisch) kommentiert und das Originalmaterial des Besessenheitsrituals zusammengeschnitten mit Alltagsbeobachtungen von seinen Protagonisten, vor allem aber mit Material, das britische Militärs und Mitglieder der Kolonialverwaltung zeigt. Er hat also das Besessenheitsritual auch visuell in einen Zusammenhang mit der Kolonialisierung gebracht. Doch was dem Ethnologen ganz selbstverständlich war, daß es nämlich bei dem gefilmten Ritual um eine Art Einverleibung der zu Gottheiten transformierten fremden Besatzer geht, betrachtete die so gespiegelte Kolonialverwaltung als harsche Kritik. Andererseits erhofften die Priester des Bundes durch den Film Zulauf, was die Kolonialverwaltung ebenfalls als politische Gefahr gesehen haben dürfte.

Für Bazin dagegen vervollständigte LMF die Idee von Rouch, dem anderen zu zeigen, wie ich ihn sehe. Aber, so sagt er, der Film zeigt eben nicht nur den Hauka, wie Rouch sie sah, sondern er zeigt vor allem uns, wie die Hauka uns sehen, und das,. so Bazin in seiner Kritik, wollen wir nicht sehen.

“Chris Marker und Alain Resnais wollten uns zeigen, wie auch die Skulpturen der Schwarzen sterben, der Film von Rouch bietet dazu die logische und positive Ergänzung, indem er uns zeigt, wie auch die Götter sterben. Und wenn es etwas noch Schlimmeres gibt als den Tod einer Kultur, dann ist es der Reflex, den sie uns im Delirium ihrer Agonie von der unseren zurückwirft."” (Bazin 1957).

Für Bazin ist LMF also vor allem ein Spiegelbild unserer selbst, in dem wir gezwungen werden zu sehen, wie wir die anderen vernichten..


3.Kontext Filmgeschichtsschreibung
Es wäre vielleicht zu erwarten, daß ein Film, der offenbar tief in die mentalen Befindlichkeiten der Kolonialländer Frankreich und Großbritannien eingegriffen hat, zumindest in die französische Filmgeschichtsschreibung eingeht. Aber die Filmgeschichtsschreibung richtet sich weniger nach politischen als nach stilistischen und auktoriellen Kriterien aus und so hat LMF meist eine andere filmhistorische Kontextualisierung erfahren, nämlich die, Vorläufer der “Neuen Wellen” im Spiel- und Dokumentarfilm der 50er und 60er Jahre zu sein.

Als Filmemacher geht Rouch den Neuen Wellen zwar voraus, aber er teilt ihr Streben nach “mehr Realität” und ihr Interesse an der Entwicklung von Techniken, die diese im Film möglich machen sollen, kleine, unauffällige, sogenannte leichte Techniken, die ein großes Team vermeiden und unmittelbaren Zugang zur Wirklichkeit erlauben sollen. Und in technischer Hinsicht ist LMF in der Tat nur ein Vorläufer; 1954 gab es keine Möglichkeit eines synchronen Tons, die Kamera mußte schon nach Sekunden per Hand wieder aufgezogen werden, das Farbmaterial war noch nicht genügend lichtempfindlich, um auch in Innenräumen ohne Licht drehen zu können. In den folgenden Filmen Rouchs werden die Einstellungen länger, und das Sprechen der Akteure tritt in den Vordergrund, wenngleich Rouchs eigene Stimme nach wie vor zu hören ist.

In die Geschichte des Dokumentarfilms ist LMF zwar als Klassiker eingegangen, aber in erster Linie deshalb, weil Jean Rouch für diesen neuen Dokumentarfilm zu einer zentralen Figur geworden ist. Ich habe vorhin den Film “Chronique d’un été” erwähnt, den er 1960 zusammen mit Edgar Morin in Paris drehte. Diesen Film nannten die beiden Autoren “ein Experiment des neuen cinéma vérité”, und dieser Begriff des c.v. hat einige Berühmtheit erlangt.

Rouch und Morin, der eine Ethnologe, der andere Soziologe, entwickelten mit diesem Begriff als Sozialwissenschaftler Erkenntnisse aus der empirischen Feldforschung für den Film weiter: Jeder Beobachter, so ihr Credo, beeinflußt, was er beobachtet. Daher kann es nicht darum gehen, sich als Beobachter unsichtbar zu machen, sondern ganz im Gegenteil, die Begegnung mit den Beobachteten produktiv werden zu lassen. Die Situationen, die sich gerade aus der Anwesenheit von Team und Kamera ergeben, sind ihrer Ansicht nach wahrhaftiger als jene, die ein Film zeigt, der so tut, als sei er selbst während der Produktion abwesend gewesen. Die Kamera, so Rouch, könne überdies die Rolle eines Katalysators spielen, der eine spezifische Wahrheit erst hervorbringt, die ohne ihn auszudrücken nicht möglich sei. Diese Art des im weitesten Sinne soziologisch forschenden Filmens nannten Morin und Rouch “ cinéma vérité”.

Das “cinéma vérité” geht also von einem emphatischen Anspruch auf Wahrheit aus und gleichzeitig von der Überzeugung, daß Wahrheit nicht beobachtbar ist, sondern in einem Forschungsprozeß erst herzustellen ist. Diese Überzeugung trifft sich in gewissem Sinn mit Brechts berühmtem Diktum, daß ein Foto der Kruppwerke nichts über diese aussage. Sie widerspricht allerdings der damals dominanten Lehrmeinung zum ethnographischen Film als einem wissenschaftlichen Forschungsinstrument, wie es etwa von Irenäus Eibl-Eibesfeldt und Hans Hass eingesetzt wurde, die ein Objektiv entwickelt hatten, das seitlich, also von den Beobachteten unbemerkt, aufnahm.

Wenn man nun den Begriff des c.v. auf LMF rückprojeziert, kann man das Phänomen der Besessenheit als exemplarisch für seine Konzeption betrachten. Was wir in diesem Film sehen, sind Körper in ungewöhnlichen Haltungen, Gesten und Entäußerungen, diese aber zeigen zumindest uns nicht, worum es bei der Besessenheit geht, nämlich um einen einverleibenden Kontakt mit Gottheiten, und sie zeigen erst recht nichts vom Charakter dieser Gottheiten. Was wir also nicht sehen, ist das Zentrum des Rituals, wenn Sie wollen, seine Wahrheit, nämlich die Götter, die von den Körpern Besitz ergreifen und sich durch die Körper äußern. Reine Beobachtung ohne Kontextualisierung bleibt also wertlos.

Diese erkenntniskritische Grundlage des c.v. ist heute ein Allgemeinplatz, zumindest in den Kulturwissenschaften. Filmhistorisch bleibt er interessant; zum einen als Gegenpol zu einem bestimmten Gebrauch von Film in der Wissenschaft, wie bei Hass gezeigt, und zum anderen als Gegenpol zum amerikanischen cinema direct, der beobachtenden Variante des Neuen Dokumentarfilms der 60er Jahre.

Die konkreten Verfahren von Filmen wie “Chronique d’un été” sind inzwischen allerdings Alltag dokumentarischer Filmpraxis. Vor allem das Fernsehen präsentiert uns täglich, was zu Beginn der 60er Jahre noch die Ausnahme war: Filmemacher mit Gefilmten sichtbar im Gespräch, Filmemacher mit Gefilmten im Schneideraum, Improvisationen in festgelegten Settings, usw. Die mediale Selbstreflexion, so könnte man sagen, ist inzwischen Element von Stil geworden.

Auch Rouch selbst hat seine Idee von der Kamera als Katalysator persönlicher Wahrheit zunehmend relativiert, als er sie in seinen semifiktionalen Filmen durch eine geregelte Improvisation aufzufangen versuchte. Diese Filme, in denen Laien gemeinsam eine Geschichte zugleich erfinden wie leben, sind filmhistorisch seine bekanntesten. Sie entstehen fast alle in den 60er Jahren in Afrika, und sie stellen schon zu Beginn des Neuen Dokumentarfilms die Frage danach, wo eigentlich die Grenze zwischen der Fiktion und dem Dokumentarischen zu ziehen ist, eine Frage, die heute vielleicht mit der Authentizität der Erfahrung beantwortet werden kann.

Zusammenfassend kann man also folgendes feststellen:
Im Werk von Rouch ist LMF thematisch und ästhetisch ein Normalfall, angesichts seiner Thematik der Besessenheit aber relevant für die Entwicklung bestimmter Theoreme zum Filmemachen, wie der Begriff des cinetrance gezeigt hat.
In der Filmgeschichte gilt LMF in erster Linie als Vorläufer für den Neuen Dokumentarfilm der 60er Jahre und zunehmd als Beispiel für einen interkulturellen Dialog. Mit der wissenschaftlichen “Entdeckung” ehemals Marginalisierter, wie sie gender und postcolonial studies anzeigen, ist die ehemalige Peripherie in die Zentren vorgedrungen und LMF wird als historisches und politisches Dokument wieder interessant.

Es ist aber vielleicht möglich, diesen Film unter anderen Perspektiven als denen von Filmgeschichte neu zuentdecken. Ich bin keine Ethnologin und kenne mich mit Besessenheit und neuen Göttern nicht aus. Ich möchte dennoch davor warnen zu glauben, man könne diese Rituale wie Bazin so einfach mißverstehen: Daß sich die afrikanische Kultur wirklich im “Delirium ihrer Agonie” befindet, würde ich bezweifeln und ich vermute, daß diese Interpretation aus einer moralischen Identifikation mit den Unterdrückten durchaus selber koloniale Züge trägt. Ich habe auch Zweifel, ob LMF uns wirklich zeigt, wie die Afrikaner uns sehen, ob es sich hier also wirklich um ein reines Spiegelbild handelt. Eher scheint mir, zeigt der Film, wie bestimmte synkretistische Religionen, die sich in einem unentwegten Wandel durch Kontakt mit anderen Religionen oder politischen Umständen befinden, mit der Kolonialherrschaft weiter entwickeln. Es ginge also eher um eine positive Flexibilität als um ein “Delirium der Agonie”. Und ob diese Flexibilität mit ihren neuen Götter in erster Linie einer psychischen Stabilisierung dient, wie Rouch behauptet, ist vielleicht auch nur eine mögliche Interpretation. Sie zielt jedenfalls mehr auf die Besessenen als Herrn des Wahnsinns als auf die Kolonisatoren als Wahnsinnige.

VD und eine anregende Vorführung.


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