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Titel: Television, Tabloids and Tears. Fassbinder and Popular Culture (Ausschnitte)
Autor: Jane Shattuc, Minneapolis, 1995

 

Television, Tabloids and Tears.
Fassbinder and Popular Culture (Ausschnitte)

Jane Shattuc

 

Neoclassical and PoliticaI Economic Theories of State, Nationalism, and Media Culture

S. 26 [...] Der für die Wiederherstellung der Informationsmedien in der britischen Besat-zungszone verantwortliche Generalmajor Alex Bishop hielt sich bei der Ausübung unverholener Umerziehungsmaßnahmen mit Hilfe des Britischen Senders, Nordwestdeutscher Rundfunk (NWDR) in Hamburg, zurück. Bishops öffentliche Position war, daß es die Rolle des britischen Besatzungsrundfunks sein sollte, "für die britische Zone Deutschlands einen Home Service, ähnlich dem BBC Home Service zur Verfügung zu stellen (...) dessen Zuhörerschaft beizubehalten und eine neue Tradition deutschen Rundfunks zu errichten. Der NWDR darf sich nicht zu offensichtlich um die Umerziehung der Zuhörerschaft sorgen, nicht einmal den Versuch unternehmen, deren kulturelles Niveau zu heben. Es wird weder der Bereich der Unterhaltung zu offensichtlich erbaulich sein, noch wird der informative Bereich zu lehrhaft gestaltet. Eine übertriebene Gewichtung seitens des NWDR auf die politische und geschichtliche Umerziehung der Deutschen wird dessen Glaubwürdigkeit zerstören. Folglich soll die explizite Darstellung 'globaler' oder 'britischer' Sichtweisen der aktuellen und der vergangenen Ereignisse gegenüber der deutschen Bevölkerung mit anderen Mitteln erfolgen."
Der britische Beitrag zur deutschen Umerzie-hung war durch diese "anderen Mittel" gekennzeichnet, welche in das institutionelle System des deutschen Rundfunks eingebunden waren.

S. 27 [...] Niemand personifizierte das wohlwollende, patriarchalische, englische Rund-funkmanagment besser als Sir Hugh Greene, der beim NWDR den Rundfunkvertrag für die britische Zone erarbeitete. [...] Der in Oxford ausgebildete Greene, während des Kriegs Chef des BBC German Service, stand für die Verwaltung durch einen gebildeten, liberalen Patrizier.
Sein Einfluß auf den deutschen Rundfunk war zweifach: Zuerst etablierte er den Prototypus des wohlwollenden aber starken Verwalters - mit Modellcharakter für andere Westdeutsche Rundfunk-/Fernsehintendanten oder General-direktoren der Fernsehanstalten. Beim NWDR herrschte unter Greene ein liberaler Geist, allerdings war die Machtstruktur ausgesprochen autoritär. Oft wird darauf hingewiesen, daß die Briten unter Greene ihre Rundfunkrechte als erste an Deutschland übertrugen, wobei diese Tatsache nicht aufzeigt, wie sorgfältig die Aus-wahl des Managements einen frühen Übergang ermöglichte. Nach Michael Tracey war es im-mer ein "oberstes Prinzip" der Personalpolitik der BBC, daß "politische Ideen und Bindungen irrelevant sind [...] [bis diese] die Arbeit [einer Person] nähren und beeinflussen." Was allerdings "politische Ideen" definiert, ist relativ.
[...] [Für Greene] stellen Klassen- und kulturelles Traditionsbewußtsein "wahre" britische Werte dar, und nicht explizit politische Ansichten.

S. 28 [...] Angesichts des missionarischen Eifers des Ursprungs Westdeutschen Rund-funks und der Unabhängigkeit von dessen patriarchalischem Management waren Rund-funk- und Fernsehanstalten in der Lage, sich nicht nur von direkter Kontrolle durch die Regierung zu distanzieren, sondern auch von den Programm-Vorlieben der Öffentlichkeit. Die Rolle dieses Management-Stils von oben nach unten wurde weiter gefestigt durch Greenes zweite Einflußnahme: die Verfassung der ARD.

S. 30 [...] [Auf diesem Gebiet] entsprach der westdeutsche Rundfunk dem hierarchischen System der BBC: ein System des öffentlichen Rundfunks, das im allgemeinen konträre Ansichten erlaubt, dessen Form und Inhalt aber nachdrücklich von einer Bildungselite definiert sind, die ihre kulturelle Kompetenz mit wenig Rücksicht auf Klassen- und Bildungs-vielfalt verbreitet. Das deutsche Fernsehen hat die Durchsetzung seines Bildungsmandates mit noch größerem missionarischen Eifer verfolgt, als die "wohlwollende" kulturelle Autorität der BBC es in Großbritannien tat. Dennoch war es der britische Einfluß während der Jahre der Umerziehung, der die gegenwärtige, widersprüchliche Mixtur aus öffentlichem Medium einerseits und Hochkultur andererseits schuf.

Die intellektuelle Bewertung der populären Massenkultur in Deutschland

Trotz der Einbindung deutscher Intellektueller in den Umerziehungsprozeß waren die Briten durch den deutschen Pessimismus bezüglich der gesellschaftlichen Bewertung der Massen-medien, insbesondere der amerikanischen und deutschen Nazi-Massenkultur matt gesetzt. Jahrhundertealte, feindselige Debatten über den allgemeinen Status von minderwertiger, massenproduzierter Prosa, sogenannten Schund gingen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in eine Diskussion über den Film über, das damals neuartige Massenphänomen.
Deutsche Expressionisten - der letzte bedeutende Atemzug der deutschen Romantik - reagierten mit Entsetzen auf die Massenproduk-tion visueller Bilder. Franz Pfemfert äußerte sich in der ersten Ausgabe des expressionistischen Magazins Die Aktion despektierlich über die Beliebtheit des Films: "Edison ist des Schlächters Ruf einer kulturmordenden Ära. Der Schlachtruf der Unkultur." Strafende Debatten über die bösen Auswirkungen "niederer" aber populärer Formen führte zunehmend zu Unzufriedenheit innerhalb der deutschen Arbeiterklasse. Die amerikanische Massenkultur wurde oft als stärker "befreiend" angesehen, da sie sich aus allgemeinen und zugänglichen Traditionen des Stücketheaters des neunzehnten Jahrhunderts entwickelt hat. "Filme" (Kino) galten als radikale Herausfor-derung für die "vornehme" Wilhelminische Literatur, welche die deutsche Kultur im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert dominiert hatte. Nach Anton Kaes beschnitt die Ein-führung des amerikanischen Films als Massen-medium seit den zwanziger Jahren die "intellektuelle Führung" des Bildungsbürgertums durch den Prestigeverlust von Literatur und Buchmedium. Er argumentiert, daß "die traditionslose breite Masse einer Kultur gegenüber skeptisch war, welche mit Erbauung und Instruktion assoziiert wurde und eine klassische Erziehung voraussetzte. Sie wandte sich statt dessen den Produkten der industriellen Massenkultur, meist aus Amerika eingeführt, zu, um das Verlangen nach Ablenkung zu befriedigen."
Die kulturellen Führer des deutschen Bürgertums sahen eine massenproduzierte Volkskul-tur als Bedrohung ihrer Führungsposition an und versuchten, per Zensurgesetze von 1884 und 1913, gegen sie vorzugehen. Dennoch überlebte das Kino als ein Zufluchtsort für Massenkultur und überdauerte die Verun-glimpfungen durch die Nazis als von "Außen-seitern" beeinflußt sowie deren propagandistische Nutzung durch die "Reichsfilmkammer". Als 1950 das Fernsehen auftauchte, versuchte die gebildete Mittelschicht erneut, ihren An-spruch auf die Definition von Kultur zu festigen, und das neue elektronische Medium wurde der neueste Ausdruck von Massenkultur, dem man mißtraute.
[...] Das deutsche Fernsehen wurde zum neusten Objekt der dauerhaften, deutschen intellektuellen Vorurteile gegen das politische Potential der Massenmedien. Die Analyse der Rolle des Fernsehens in der deutschen Gesellschaft erfolgte in einer hochgradig spekulativen soziopsychologischen Ausrichtung, in Bezug auf die Verdinglichung des denkenden "Individuums" durch die Massenmedien. Das Medium wurde im allgemeinen entweder als "seelenlos" (auraless) oder "versklavend" bezeichnet. Ein Schriftsteller (ironischerweise später Chef des ZDF) brachte 1951 das allgemeine Mißtrauen gegenüber dem Fernsehen auf den Punkt:
"Eine flackernde Rastlosigkeit füllt unsere Vorstellungen mit Milliarden von Bildern, von denen die meisten von wenigen Zuschauern gesehen werden. Daraus resultierend ist unsere Vorstellung auch nach innen gewandt. Es erzürnt die Unruhe in uns, wenn nichts mehr passiert; die meisten von uns halten es nicht aus allein zu sein, weil unsere Phantasie tot ist." Dieser Skeptizismus - einem expressionistischen Alptraum folgend - durchzog die politischen, ästhetischen und psychologischen Diskussionen über das deutsche Fernsehen während dessen fast vierzigjähriger Geschichte. Folglich durchlebte das deutsche Fernsehen eine permanente Legitimationskrise, während es zu beweisen suchte, daß es sowohl ein Medium demokratischen Individualismus als auch ästhetischen Wertes sein kann. Die Geschichte des Fernsehspiels resultiert aus der Verbindung zweier widersprüchlicher Ansichten von Faschismus und Massenmedien: die positive Einschätzung der Alliierten von Rundfunk als konstruktives Mittel zur deutschen Umerziehung und der deutschen liberalen bis marxistischen intellektuellen Tradition des Mißtrauens gegen-über den Fähigkeiten der Medien, den individualistisches demokratisches Denkens hervorzubringen.

Fernsehspiele und Adaptionen in der Adenauer Ära: Die Schaffung einer Hochkultur angesichts einer schwindenden Filmindustrie

Während die deutsche Filmindustrie die berüchtigten "Quoten-Quickies" der fünfziger und sechziger Jahre produzierte, erschuf das deutsche Fernsehen eine neue filmische Form, das wichtigste landeseigene Genre West-Deutschlands - das "Fernsehspiel". Im Gegensatz zum amerikatypischen Programm von wöchentlichen sitcoms und Einstunden-Serien basierte das westdeutsche Fernsehen auf ein- bis zweistündigen Fernsehfilmen als zentraler Erzählform. Der Anstrich von Hoch-kultur wurde bei den Fernsehspielen durch die Tatsache verstärkt, daß sie unter der Feder-führung einiger führender deutscher Intellektu-eller produziert wurden. Unter dem Einfluß der BBC-Tradition hatte der NWDR in den frühen fünfziger Jahren so viel antifaschistische Intellektuelle und Künstler angezogen wie möglich. Laut Richard Collins und Vincent Porter stellten die Übertragungen von "Lesungen neuer deutscher Prosa und Lyrik, Hörspielen sowie weiterer künstlerischer Ereignisse" nicht nur einen "Brennpunkt" des Programms dar, sondern auch eine zentrale "Quelle der Förderung" junger Nachkriegskünstler und Intellektueller.
Die Briten unternahmen bereits vor der Übergabe in deutsche Hände den Versuch, den wachsenden Konflikt zwischen der positiven alliierten Einschätzung zum Nutzen der Massen-medien auf der einen Seite mit dem Mißtrauen der Deutschen zu versöhnen. Der Versuch be-stand darin, etablierte Kulturprogramme zu produzieren, die Autoren-Koryphäen verfaßt hatten, deren Werk in irgendeiner Form das Individuum gegenüber der Masse heraushebt. Im März 1951 produzierte der NWDR das erste Fernsehspiel, Goethes Vorspiel auf dem Theater. Der Vergleich zwischen dem deutschen Fernsehspiel und dem ersten amerikanischen live-Fernsehspiel, Requiem for a Heavy-weight (1956), illustriert einen bedeutenden Unterschied bezüglich des literarischen Anspruchs.
Aufgrund der Beschränkung durch den "live" Kamera-Aufbau der frühen fernsehtechnologischen Ära, bevorzugten deutsche Produzenten in den fünfziger Jahren Bühnenadaptionen. Entsprechend dem von Hollywood entlehnten klassischen Ablauf zeichneten westdeutsche Produzenten ihre Werke in Form von gefilmter Theaterspiele auf. Sie strebten nach Einheit von Raum und Zeit, basierend auf dem Prinzip der linearen Erzählung. Eine begrenzte Anzahl von Zeitsprüngen reduzierte die Notwendigkeit von Schnitten. Die Einführung des Magnetban-des 1957 ermöglichte dem Fernsehspiel einen technischen und formalen Schritt in Richtung der vom Kino angewandten, anspruchsvollen Bearbeitung und Kameraführung. Es blieb dennoch abhängig von den Protagonisten und von einer klaren Kausallogik, ähnlich der in Holly-wood praktizierten Erzählform.
Diese Freiheiten schlugen sich allerdings nicht auf die Themenwahl der Fernsehfilme nieder. Charakteristisch für das deutsche Fernsehen bleibt bis zum heutigen Tage (wenn auch abnehmend) die Abhängigkeit der Fernseh-Spielfilme von Adaptionen bekannter literarischer Werke. Sowohl Fassbinder als auch das meiste, was allgemein als Neuer Deutscher Film bekannt ist, bedienten sich dieser Kunst-form und erzielten allgemeine Anerkennung. Das vorrangige Ziel des deutschen Fernsehens war es, "bildend" zu wirken, und die Verfilmung dieser Werke ermöglichte dem Publikum den Zugang zu komplexen literarischen Werken mit Hilfe der Methoden Hollywoods.
Das erste deutsche Fernsehspiel war, angemessenerweise, eine Adaption eines Stücks von Johann Wolfgang von Goethe, möglicherweise dem am meisten gehuldigten Vertreter deutscher Literatur. Fernsehspiele dienten als Medium zur Heranführung der "Massen" an liberale kulturelle Werte anerkannter Literatur. Wenn eine kulturell pluralistische Demokratie im Fernsehen präsent war, so war es in der Vielfalt der einzelnen dort vertretenen Autoren. E.M. Berger, damals der führende Fernsehspiel-Produzent, drückte 1953 die offizielle Position des NWDR folgendermaßen aus:
"Es ist angebracht, daran zu erinnern, daß die Dramaturgie des Theaters und des Films, ganz zu schweigen von der des Radios, noch nicht sehr alt ist. Glücklicherweise adaptierte das Fernsehen zu Beginn absichtlich die Theorie dieser Medien, bevor es dazu überging, eigene Formen zu entwickeln. Im Zuge der erstarkten Parameter des Fernsehens wird es, wie auch der Film, sich zurückbesinnen müssen auf das fest etablierte Gebiet des Theaters."
Ein Blick auf die aktuelle Zahl der Fernsehspiel-Produktionen in den fünfziger Jahren gibt Auf-schluß darüber, wie sehr diese konservative Ausrichtung hin zu "etablierten" Formen gefestigt wurde. Von den zwischen 1951 und 1959 produzierten Fernsehspiele waren 81% Adap-tionen. Von diesen Adaptionen entsprangen 80% dem Theater, 13% Romanen (und anderen theaterfremden Quellen) und 6% den Hörspielen.
Wie auch Fassbinders Werk so basierten diese Fernseh-Adaptionen auf Literatur aus dem neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert (vornehmlich Literatur der zwanziger Jahre). Nicht überraschend wurden die Adaptionen bezüglich der Quellenangabe dem literarischen Autor gutgeschrieben. Selten wurde der Fernsehbearbeiter oder der Fernsehregisseur erwähnt. Einige der am häufigsten herangezogenen deutschsprachigen Dramatiker waren Gerhart Hauptmann, Arthur Schnitzler, Ferdinand Bruckner und Carl Zuckmayr. Die Prosa-Autoren, auf die hauptsächlich zurückgegriffen wurde, waren Stefan Zweig, Franz Kafka, Franz Werfel und Ernst Penzoldt. Der Löwenanteil fremdsprachlicher Werke kam, wiederum nicht überraschend, aus den alliier-ten Ländern. Wenn auch die überwiegende Mehrheit der Adaptionen aus dem anerkannten literarischen Kanon hervorging, versuchten einige der eher linksorientierten Sendeanstalten (vor allem der NWDR) eine begrenzte Anzahl an beliebten Komödien zu produzieren, sowie Stücke von Boulevard-Autoren wie z.B. Curt Goetz, dem Verfasser beliebter Sex-Komödien.
Über die Tradition des Theaters im Bildungs-bürgertum hinaus gab es weitere wirtschaftliche, technische und politische Gründe für die Vorherrschaft von Adaptionen in den fünfziger Jahren. Abgesehen von der Unkompliziertheit der Bühnenproduktionen, waren Adaptionen kostengünstiger zu produzieren, als Original-filme. Aufgrund der Verwendung bekannter literarischer Quellen, welche bereits eine Publikum erlangt hatten, hatte das Fernsehen eine verläßliche Basis für einen voraussehbaren Übertragungserfolg. Originalfilme bargen andererseits die unvorhersehbare Variable der Zuschauerakzeptanz.
Diese wirtschaftlichen Argumente täuschen allerdings über den politischen Einfluß der Adenauer Ära und des Kalten Krieges hinweg. Eines der primären TV-Tabus der damaligen Zeit war die Behandlung der DDR. Indem nur Werke der Literatur-Koryphäen produziert wurden, umging das Fernsehen politische Proble-me auf zweierlei Weise. Es bedurfte erst einmal keiner Rechtfertigung der getroffenen Auswahl; dies hatte die Geschichte bereits erledigt. Zweitens vermied man durch Produktionen "klassischer" Werke nicht nur aktuelle Themen des Kalten Krieges, sondern auch die Behand-lung der nach wie vor hochbrisanten Nazizeit.

Die Schaffung eines landestypischen Fernsehformates: Das Original-Fernsehspiel

Erst als etablierte Autoren begannen, das Potential des Fernsehens für die Darstellung zeitgenössischer Realität zu akzeptieren, nahm die Abhängigkeit von Adaptionen ab. 1961 trafen sich einige der bekanntesten literarischen Autoren Deutschlands (Heinrich Böll, Günter Grass und Martin Walser), die "Gruppe 47", um über die Schwierigkeiten freier Schriftsteller in der Nachkriegszeit in West-Deutschland zu diskutieren und über die Möglichkeiten, wahrhaft originale Fernsehspiele innerhalb eines staatlich kontrollierten Mediums zu schreiben. Es entstand ein allmähliches Einvernehmen: die journalistische Beschäftigung im Fernsehen mit zeitgenössischer Realität war es, was das Fernsehspiel von Prosa unterschied. Allerdings hatte sich keine entsprechende bildliche Form dieser Realität entwickelt.
In den darauffolgenden dreißig Jahren hat diese Diskussion über den dem Fernsehen eigenen "Realismus" verschiedene thematische Wendungen erfahren, wobei eine starke Über-einstimmung darüber anhält, daß die Tugend des Fernsehfilms in dessen fotografischen Realismus besteht. Wenn es ein anderes Medium gab, das diese Diskussion beeinflußte, dann war es der Fotojournalismus. Es ist kein Zufall, daß das Interesse an kritischen Doku-mentationen auf die Festlegung der höchsten politischen Bedeutung des Fernsehens durch das Bundesverfassungsgericht folgte.
Zusätzlich muß auf die wachsende Liberalisie-rung West-Deutschlands und dessen Medien nach der Spiegel-Affäre von 1962 hingewiesen werden. Die Bundesregierung unter Kanzler Konrad Adenauer hat illegalerweise Akten des führenden Nachrichtenmagazins Der Spiegel beschlagnahmt, nachdem dieses Informationen veröffentlicht hatte, die Adenauer als "streng geheim" ansah. Solche Mißbräuche von Staats-gewalt führten, gemeinsam mit dem Macht-mißbrauch der Bundesregierung gegenüber den Ländern, zum Rücktritt Adenauers im Oktober 1963.
Das Ende der Adenauer-Regierung symbolisierte das Ende der Kapitulation gegenüber den politischen und wirtschaftlichen Forderun-gen Amerikas. Die Medien nahmen eine mehr oder minder oppositionelle Rolle ein, was eine wachsende politische Liberalisierung und sogar einen ansteigenden Nationalismus in den frühen sechziger Jahren in West-Deutschland signalisierte. Diese Veränderungen führten unmittelbar zum Wiedererstarken der Linken Mitte der sechziger Jahre - ein politisches Klima, das sich niemand hätte vorstellen können, als die alliierten Besatzungsmächte in das geschlagene Nazi-Deutschland einrückten.
Die alltägliche Qualität des Fernsehens wird eine beliebte Plattform für das wachsende Interesse an sozialbewußte Dramen und politischen Veränderungen. Knut Hickethier argumentiert in seiner Geschichte des Fernseh-spiels, daß der ansteigende "kritische Realis-mus" in den Fernsehspielen seine Ursache in einem wachsenden Bewußtsein im deutschen Fernsehen hat, darüber "wie der Realismus der anderen täglichen Programmformen künstlerisch umgesetzt werden kann." Martin Walser pflichtete dem 1959 bei: "Man kann keine formalen Gesetze für das Fernsehen festschreiben, es gehört der Realität. Wie eine Geschäfts-straße, ein Flugzeug oder ein Zeitung ist dessen primäres Ziel, uns in die innere Natur der Realität zu führen." Der Leiter der Film- und Fernsehspiel Abteilung beim NDR, Egon Monk, schuf in den frühen Sechzigern eine einflußrei-che Serie, basierend auf Begebenheiten durchschnittlicher Deutscher während des Nazi-Regimes. Diese Serie erlangte Berühmtheit wegen der dokumentarischen "Alltags"-Porträts . Monk argumentierte später in Bezug auf dieses wachsende Interesse am kritischen Dokumentationscharakter von Fernsehspielen, daß ein politisches Engagement der Fernseh-filmen in den Sechzigern ein "Vorbedingung" für Fernsehproduktionen gewesen sei, um "das Vertrauen in die Richtigkeit der Handlungen der damaligen Machthaber durcheinanderzuwirbeln und die Zuschauer davon zu überzeugen, daß es besser sei, doppelt zu zweifeln als etwas einfach nur aus Vertrauen zu akzeptieren."
Diese journalistische Einschätzung des Fern-sehspiels war noch in den siebziger Jahren vorherrschend, als Fassbinder den Großteil seiner Fernsehfilme drehte. Der einflußreiche Kritiker Hans Blumenberg behauptete 1978 in Die Zeit, daß das Fernsehen ein "journalistisches, nicht ein künstlerisches Medium" sei. Letztendlich je nach Adaption und Themenfilm, der seiner Ansicht nach "sozialrelevante, tages-aktuelle Probleme behandelt." Fassbinders Fernsehwerk unterstützt diese Behauptung, indem er überwiegend Adaptionen produzierte, sowie einem Exkurs hin zu einer Reihe von Dramen über Formen von Unterdrückung in west-deutschen, bürgerlichen Familien. Blumenberg argumentierte weiter, daß das Fernsehen "aktuelle soziale Probleme unter denen wir leiden (...) direkter, exakter, umfangreicher und realistischer aufgreifen kann als der Kinofilm." Dieses Vorurteil gegenüber dem Fernsehen als einem journalistischen, realistischen Medium stammt von der Evolution einer der zentralen, deutschen Erzählformen im Fern-sehen der sechziger und frühen siebziger Jahre - dem sozialbewußten Dokudrama. Aber wiedereinmal entwickelte sich keine tatsächliche Form, ein Stil und narrativer Prozeß. Irgendwie setzte der zeitgenössische Realitäts-bezug eine bestimmte und daher unausgesprochene "objektive" Form voraus. Aus dem Blickwinkel neuerer angloamerikanischer Filmkritik ist die Form des deutschen Dokudramas am klassischen Hollywoodfilm ausgerichtet. Lediglich die Themeninhalte - zeitgenössische deutsche Kultur - machten das Dokudrama zu einer deutschen Kunstform.
Ab 1960 hatten beide führenden Fernsehan-stalten begonnen, gemeinsame Anstrengungen zu unternehmen nach Autoren zu suchen, die ausschließlich für das Fernsehen schreiben würden. Dennoch blieben diese Autoren lediglich Drehbuchschreiber; sie setzten weder selbst ihre Fernsehdrehbücher um, noch hatten sie im allgemeinen irgendwelche Erfahrung im Bereich von Fernseh- oder Filmproduktionen. Dieser Fokus auf den literarischen Werdegang des Fernsehfilms spiegelt die grundsätzliche Haltung der Anfangsjahre wieder, einen literarischen Ursprung des Genres sowie die Domi-nanz des geschrieben Wortes gegenüber dem Visuellen immer hervorzuheben.
Auch wenn die Zahl der Original-Fernsehfilme zunahm, beherrschten Adaptionen den Fern-sehschirm, bis 1970 deren Anteil erstmals unter 50% (41.6%) sämtlicher Fernsehfilme fiel.
Wenn auch so bekannte Autoren wie Christian Geissler, Franz Hiesel, Günter Herburger, Manfred Bieler und Dieter Waldmann allesamt Original-Fernsehdrehbücher verfaßt haben, blieb die Unterscheidung zwischen 'wahren Schriftstellern' und denen, die einen Job als Autor hatten, bestehen. Das sich in den Sech-zigern herausbildende Fernsehkonzept der Autorendramaturgie zeigt den Grad auf, mit dem Autoren in den frühen Sechzigern daran partizipierten, obwohl sie aus dem Bereich der Printmedien kamen und das Fernsehen nicht als technologisch und formal anderes Medium betrachteten. Die sogenannten objektiven Kriterien des klassischen Hollywoodfilms und der Theaterfilme blieben die Grundlage ihrer Drehbücher. Obwohl die Zahl der Original-Fernsehdrehbücher in den Sechzigern auf 702, von 105 in den Fünfzigern, angestiegen waren, kamen nur 22% aus den Federn bekannter Literaten.
Letztendlich erlebte diese Periode auch eine gewaltigen Anstieg an Fernsehfilmen - von 548 in den Fünfzigern zu 2,700 in den Sechzigern. Das Fernsehspiel war eines der zentralen landeseigenen Fernsehformate geworden. Im Jahr 1968, als die Filmindustrie in ihre letzte und endgültige Krise schlidderte, hatte es den Spielfilm hinsichtlich des Zuschauerinteresses überholt. Damals liefen 434 Filme in deutschen Kinos an, während 277 Spielfilme und 211 Fernsehfilme ausgestrahlt wurden. Die Film- und die Fernsehindustrie waren feindselige Konkurrenten, nicht nur als Vertreter ähnlicher audiovisueller Medien, sondern auch als Medien, die rivalisierende Erzählformen des Filmemachens produzierten und vorstellten.
Dennoch zeigten diese streitenden Industrien starke inhaltliche und formale Unterschiede, hauptsächlich aufgrund der Bemühungen des Fernsehens, sich mit Hilfe der anerkannten Welt der Literatur zu legitimieren, aber auch wegen der wirtschaftlichen Abhängigkeit des Fernsehens von kostengünstigeren Video-Pro-duktionen. Es würde externer Kräfte bedürfen
- Stärkung der französischen Auteur-Theorie und des Independent-Films in Deutschland -, um den nötigen Diskurs und die Arbeitskraft zu schaffen, damit das Fernsehen eine wahrhaft filmische und nicht theatralische Form unterstützen könnte.