WWW.HAUSSITE.NET > SCRIPT SECTION
Titel: Der anthropologische Diskurs über Indien: Die
Vernunft und ihr Anderes
Autor: Veena Das
in: Eberhard und Martin Fuchs
(Hrsg.): Kultur, Soziale Praxis, Text.
Die Krise der ethnographischen Repräsentation.
Suhrkamp: München, 1993
Der anthropologische Diskurs über Indien: Die Vernunft und ihr Anderes
Veena Das
Einführung
Dass die Anthropologie ebenso wie einige andere Sozialwissenschaften die eurozentrisch
orientiert ist, wird seit langem zugegeben. Was die Anthropologie gegenüber
anderen Disziplinen jedoch auszeichnet, ist ihre Verwendung der Kategorie
des "Anderen", um die Beschränkungen ihres Ursprungs und ihrer geographischen
Herkunft zu überwinden. In diesem Beitrag möchte ich die "Andersheit"
der indischen Gesellschaft untersuchen und prüfen, welche Rolle sie in
der anthropologischen Theorie gespielt hat. (1) Es entbehrt nicht der Ironie,
dass sich die Auseinandersetzungen in der anthropologischen Theorie nicht
nur in den ideologischen Konflikten der modernen indischen Gesellschaft spiegeln,
sondern dass man sogar sagen kann, sie hätten diesen Konflikten neue
Artikulationsräume geschaffen. Ich möchte dieses Argument untermauern,
indem ich - eher an eine Sprache als an eine Bewusstseinsphilosophie angelehnt
- die expliziten und impliziten Dialoge zu entwirren versuche, die der anthropologische
Text enthält. Ich nehme an, dass die Beziehung zum Anderen auf der begrifflichen
Ebene des anthropologischen Textes in mancherlei Hinsicht eindeutig mit unserem
kommunikativen Verhalten gegenüber anderen in Bezug zu setzen ist. So
erkenne ich im ethnographischen oder soziologischen Text über Indien
zumindest drei Arten von Dialogen: den innerhalb der Disziplin verlaufenden
Dialog mit den westlichen Forschungstraditionen; den Dialog mit dem indischen
Soziologen und Anthropologen; und den Dialog mit dem "Informanten", dessen
Stimme entweder als im Feld gewonnene Information präsent ist oder sich
in den schriftlichen Texten der Tradition niedergeschlagen hat. Und eben aus
der Wechselbeziehung zwischen diesen drei Dialogen gewinnen wir unsere Methode
zu einem Verständnis des anthropologischen Textes.
Die Entwirrung des Wir und des Ihr.
Der Text von Louis Dumont
Ich beginne mit der Frage: An wen richtet sich der anthropologische Text?
Und hat der Adressat Einfluss auf die Wahl des Gegenstands? Einer der einflussreichsten
Autoren, die sich mit der indischen Gesellschaft beschäftigt haben, Louis
Dumont, charaktensierte die traditionelle Hierarchie als das "herausragende
ideologische Merkmal" des indischen Sozialsystems (unter dem Gesichtspunkt
seiner Morphologie). (2) Als geeignetes Untersuchungsobjekt bot sich die Hierarchie
deshalb an, weil sie den absoluten Gegenpol zu dem darstellt, was Dumont als
"die moderne Ideologie" bezeichnet hat. Das Ziel seiner Erforschung dieses
Gegenpols bestand darin, "unsere Ideologie - als unumgängliche Voraussetzung
ihrer Überwindung - zu isolieren, einfach weil wir uns sonst im Medium
unseres eigenen Denkens verfangen". Als Charta für die Legitimität
anthropologischer Forschung verstanden, macht dieser programmatische Satz
deutlich, dass die Subjekte dieser Forschung-also "wir" ebenso wie das Publikum,
an das sie sich richtet - per definitionem Gesellschaften mit "modernen
Ideologien" angehören. In der "Modernität" dieser im Westen vorherrschenden
Ideologie liegt bereits die Aufforderung an das Publikum, die Fähigkeit
zu entwickeln und zu pflegen, andere Werte intellektuell zu verstehen, selbst
wenn man einräumt, dass diese die eigenen Werte des Lesers nicht ernsthaft
in Frage zu stellen vermögen. In den Worten Dumonts:
"Selbstverständlich kann sich der Leser weigern, seinen eigenen Wertmassstab
aufzugeben, er kann darauf beharren, dass der Mensch für ihn mit der
Deklaration der Menschenrechte beginnt, und schlicht und einfach all das verurteilen,
was davon abweicht. Damit setzt er sich gewiss Grenzen, und sein Anspruch
darauf, "modern" zu sein, gibt nicht nur de facto, sondern auch de jure Anlass
zur Diskussion. In Wirklichkeit handelt es sich hier keineswegs - sagen wir
es klipp und klar heraus - darum, die modernen Werte direkt oder indirekt
anzugreifen. Sie erscheinen uns im übrigen genügend gesichert, als
dass sie etwas von unseren Untersuchungen zu fürchten hätten. Es
handelt sich lediglich um einen Versuch, andere Werte intellektuell
zu erfassen." (3)
Akzeptiert man eine solche Beschreibung der anthropologischen Problemstellung,
welchen intellektuellen Raum könnte die Anthropologie dann in Indien
für sich beanspruchen? Wäre eine solche Anthropologie oder Soziologie
"indisch" in dem Sinne, dass sie eine allgemeine, durch verwandte Begriffssysteme
und Methoden geprägte Wissenschaft mit Hilfe adjektivischer Bestimmungen
näher qualifiziert? Müsste man sie besser als Soziologie oder Anthropologie
in Indien beschreiben, insofern Indien nur den Ort angibt, von dem aus
kulturelle Differenzen und ihre Erscheinungen beobachtet werden? Oder sollte
man lieber an eine Soziologie Indiens" denken, für die sich Dumont
einsetzt und mit deren Hilfe die Sehnsucht des Westens, den Beschränkungen
seiner Ideologie intellektuell zu entrinnen, zum Ziel kommen könnte?
Hier ist nicht der Ort, systematisch zu untersuchen, welche subtilen Folgen
sich jeweils aus der geistigen Haltung der Anthropologin zu diesen Fragen
für ihre Einstellung zur indischen Gesellschaft ergeben. Ich hoffe jedoch,
dass sich im Laufe der Diskussion eine Antwort abzeichnet. Die nächstliegende
Gefahr für indische Anthropologen besteht jedoch darin, sich den Vorwurf
anhängen zu lassen, entweder "defensiv" oder "chauvinistisch" zu sein.
Auf diesen Punkt macht Dumont seine westlichen Leser folgendermassen aufmerksam:
"Heutzutage erklären die Hindus Vertretern des Westens gegenüber
sehr oft, dass die Kaste eine soziale, nicht eine religiöse Angelegenheit
sei. Es ist klar, dass die Motivation für diese Behauptung eine ganz
andere ist als die der vorerwähnten Ansichten: In erster Linie handelt
es sich darum, die Institutionen zu einem gewissen Grad vom westlichen Standpunkt
aus zu rechtfertigen-ein Standpunkt, den der gebildete Hindu meist akzeptiert."'
Somit kann der gebildete Hindu über Kaste und Religion nicht mit authentischer
Stimme sprechen, weil er dazu verurteilt ist, die Einrichtungen seiner Gesellschaft
"vom Standpunkt des Westens aus" zu betrachten. Nimmt er jedoch eine Perspektive
ein, die man als "indisch", "hinduistisch" oder "islamisch" bezeichnen könnte,
wird er den Vorwurf ernten, "rückwärtsgewandt" zu sein. Legitim
scheint die Orientierung an den Traditionen seiner eigenen Gesellschaft allenfalls
dann, wenn sie eindeutig in die Vergangenheit gestellt werden. Blicken wir
dazu noch einmal auf eine alte Kontroverse zwischen Dumont und zwei indischen
Anthropologen, um die Beziehungsfalle einschätzen zu können, in
der indische Anthropologen gefangen sind.
In seiner Antrittsvorlesung anlässlich der Übernahme des Lehrstuhls
für die Soziologie Indiens an der ƒcole Pratique des Hautes Etudes (1955)
regte Dumont die Schaffung einer (neuen?) Soziologie Indiens an, die sich
dort ansiedeln sollte, "wo Soziologie und Indologie zusammenfliessen". (5)
In diesem Entwurf bestimmte Dumont das Kastensystem als die grundlegende Institution
der indischen Gesellschaft, die sowohl nach den Schriftquellen als auch empirisch
erforscht werden könne. Die Bestimmung der Kaste als grundlegende Institution
der indischen Gesellschaft erlaube es, ungeachtet aller beobachteten regionalen
und historischen Verschiedenheiten einen Begriff von der Einheit Indiens zu
gewinnen. Dumont war sich darüber im klaren, dass die Behauptung, die
Einheit Indiens liege in seinem Kastensystem, sowohl als soziologisches
Theorem wie auch als politische Feststellung aufgefasst werden konnte. So
schrieb er 1960, er fürchte, dass sein Projekt von einigen indischen
Lesern missverstanden worden sei. In seinen Worten:
"Haben nicht einige unserer indischen Leser in dem Satz, die Kaste sei die
Grundeinheit der indischen Gesellschaft, mehr gesehen als ein soziologisches
Theorem - so etwas wie eine politische Affirmation, um nicht zu sagen eine
Waffe? [...] Zur Klärung aller Missverständnisse sollte es genügen,
daran zu erinnern, dass die von uns gemeinte Einheit keine politische, sondern
eine religiöse Einheit ist. Im Sinne von "Handlungszielen" heisst das:
artha wird dharma untergeordnet [ ... ] was hier bedeutet: politische
Zwietracht wird in Kauf genommen, um den Vorrang der Religion zu sichern.
Und der gesamte Verlauf der indischen Geschichte liefert die Bestätigung
dafür. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, liegt die Aufgabe des modernen
indischen Staatsmannes genau darin, die eine Art der Einheit durch die andere
zu ersetzen. Der Weg von einer Kastengesellschaft zu einer Nation ist lang,
und die politische Aufgabe wird um so schwieriger erscheinen, je besser die
Art der bestehenden Einheit begriffen wird. Unsere indischen Freunde werden
uns vergeben, wenn wir - in dem Wunsch, eine Verwechslung der Ebenen zu vermeiden
- unsere gewohnten Grenzen ein wenig überschritten haben." (6)
An dieser Stelle unserer Argumentation wollen wir auf zwei Punkte hinweisen,
die sich aus Dumonts Klärung ergeben. Erstens: Während es bei der
Bestimmung des Kastensystems als einheitsstiftendes Fundament Indiens für
westliche Leser lediglich um die intellektuelle Aneignung fremder Werte
geht, haben zumindest einige indische Leser dieses soziologische Theorem offenbar
als politische Waffe benutzt. Zweitens: Die indische Nation kann nur
gegen den "gesamten Verlauf der indischen Geschichte" errichtet werden, und
selbst auf die Gefahr hin, die eigenen Grenzen dabei zu überschreiten,
gehört es zur hehren Verantwortung des westlichen Anthropologen, die
indischen Staatsmänner an ihre Aufgabe zu erinnern. Nebenbei gesagt steht
dieses Konzept, das den Begriff der Nation in diametralen Gegensatz zu den
Traditionen der Gesellschaft rückt, in der diese Nation errichtet wurde,
sowie jenes Zeitbewusstsein, das die Vergangenheit als Bedrohung der künftigen
politischen Stabilität Indiens betrachtet, im Mittelpunkt einer bedeutenden
ideologischen Debatte, die in der kulturellen Öffentlichkeit der indischen
Gesellschaft geführt wird. Mit dieser doppelten Konzeption einer "Nation"
im Gegensatz zur "Gemeinschaft" (lies: Kaste) und einer Vergangenheit, die
man bewusst von sich abwerfen muss, kommt eine politische Ökonome der
Zeichen ins Spiel. Die politischen Implikationen dieser Begriffsverwendung
thematisiert Dumont mit Hilfe zweier methodologischer Kunstgriffe. Zum einen
liegt Indien vom Westen räumlich so weit entfernt, dass westliche Gelehrte
die "Kaste" und ihr Wertsystem auf rein intellektueller Ebene untersuchen
können, ohne dass diese "überholten" Werte für den westlichen
Leser irgendeine politische Chance oder Herausforderung darstellten. Für
den indischen Anthropologen, der in Gesellschaften lebt, die von diesen Werten
durchdrungen sind, besteht nach Dumont die Herausforderung darin, diese traditionellen
Institutionen und Werte zu überwinden, um einen modernen Nationalstaat
zu errichten. Die einzige Haltung, die der moderne Inder seinen eigenen Traditionen
gegenüber einnehmen kann, besteht darin, sie in die Vergangenheit zu
verlegen; In keinem Falle stellen sie einen geistigen Reichtum dar, aus dem
zeitgenössische Gesellschaften schöpfen könnten. An die Stelle
der räumlichen Entfernung tritt die zeitliche Distanz, so dass dem indischen
Anthropologen seine eigene Vergangenheit als das Andere erscheint. So gehen
diese Zeichen in diskursive Konstrukte ein, in denen beide, die moderne
indische Identität wie auch eine theoretische Anthropologie Indiens,
konkrete Gestalt annehmen.
Im Jahre 1962 schrieb der indische Soziologe A. K. Saran, der sich längere
Zeit mit der Frage beschäftigt hat, welche Auswirkungen die Soziologie
- als westliche Disziplin - auf die Entwicklung der indischen Wissenssysteme
hat, eine Besprechung des vierten Bandes der Contributions to Indian Sociology.
(7) In dieser Rezension vertrat Saran die Auffassung, Dumont stelle mit seiner
Behauptung, der Blick eines externen Beobachters auf die indische Gesellschaft
sei in höherem Masse objektiv als ein Blick von innen, eine positivistische
Falle auf. Der Blick von aussen, behauptete er, sei nichts weiter als die
Deutung einer Kultur in den Kategorien einer anderen, fremden Kultur. Ein
solcher Zweifel an der Vorstellung, dass der Blick von aussen irgendwie objektiver
sei, ist nun weder für die Philosophie noch für die Anthropologie
sonderlich verblüffend. Tatsächlich wäre die Idee einer von
ihrer Beschreibung unabhängigen Realität im heutigen philosophischen
Diskurs kaum haltbar. So stellen Goodman und Elgin in prägnanter Formulierung
fest:
"Die Irrtümer der Wahrheit sind vielfältig und schlimm. Als Korrespondenz
zwischen Diskurs und der vorgefertigten Welt jenseits des Diskurses konstruiert,
verstrickt sie sich in zweifache Schwierigkeit: Es gibt keine derartige, von
Beschreibung unabhängige Welt; und Korrespondenz zwischen Beschreibung
und dem Unbeschriebenen ist unverständlich. Wahrheit ist eine brauchbare
Klassifikation von Aussagen, sie muss jedoch etwas anders aufgefasst werden."
(8)
Von anthropologischer Seite kommentierte Clifford Geertz die epistemologische
Nähe von Ethnographie und Dichtung. Er vertrat die Ansicht, dass die
Konventionen, nach denen Wahrheit in Ethnographie und Dichtung behauptet und
akzeptiert wird, zu einer nicht-fiktionalen Erzähltradition gehörten,
welche die Illusion eines unverstellten Blicks auf die Tatsachen durch das
transparente Medium unschuldiger Fiktionen hindurch erzeuge. (9) Tatsächlich
ist es heute beinahe schon gang und gäbe, die Krise der Repräsentation
im Zusammenhang mit der Preisgabe ethnographischer Autoritätsansprüche
auf die ÈobjektiveÇ Beurteilung einer ÈäusserenÇ Realität zu erörtern.
Dumonts Antwort auf Saran blieb jedoch nicht im Rahmen eines Dialogs über
die Beschaffenheit der Welt, die der Ethnograph erschafft oder repräsentiert,
sondern bestand eher darin, Saran als Faschisten zu denunzieren. Die folgenden
beiden Zitate sprechen für sich:
ÈMit anderen Worten, während der westliche Sozialanthropologe sich bemüht,
seine eigene Kultur - das heisst jene Kultur, die gegenwärtig die Welt
materiell beherrscht - "in Perspektive" zu betrachten, möchte
Dr. Saran unbehelligt im seligen Besitz seines neo-hinduistischen Glaubens
bleiben. Dies ist verständlich, denn die hinduistische Religion und Philosophie
ist in ihrer Weise mindestens ebenso allumfassend, wie es irgendeine soziologische
Theorie nur sein könnte." (10)
Die Uneindeutigkeit dieser Aussage wird auf der folgenden Seite freilich beseitigt:
Am beunruhigendsten scheint mir, dass Dr. Saran sich der gefährlichen
Implikationen nicht bewusst zu sein scheint, die sich im weiteren Rahmen aus
seinem Standpunkt ergeben. Wir Europäer haben einen Herrscher gehabt,
der uns die Undurchdringlichkeit der Kulturen (er sagte: Rassen) lehren wollte;
sein Name war Adolf Hitler. Solipsismus ist mit Gewalt keineswegs unvereinbar.
[ ... ] Ich hoffe, dass uns jedenfalls so viel zugute gehalten wird: dass
wir einen gewissen Beitrag dazu geleistet haben, den Weg zu einem Verständnis
zu ebnen, ohne die Schwierigkeiten und Hindernisse zu unterschätzen.
Ich hätte nicht gedacht, dass ein Gelehrter vom Rang Dr. Sarans sich
für neo-hinduistische "provinzielle" und rückwärtsgerichtete
Gefühle hergeben würde." (11)
In
diesen bemerkenswerten Passagen entwirft Dumont, wie es scheint, nicht nur Indien
als Objekt der Anthropologie, sondern legt im selben Moment die Bedingungen fest,
unter denen (moderne?) Inder Anspruch auf einen legitimen Platz in der Welt anthropologischer
Forschung erheben können. Für den westlichen Anthropologen gehört
es zu den Werten seines modernen aufgeklärten Bewusstseins, Werte anderer
Kulturen intellektuell zu verstehen. Dies hilft ihm bei seinen Bemühungen,
Ideologie in ein Werkzeug wissenschaftlicher Argumentation zu verwandeln. Dieses
intellektuelle Unternehmen kann jedoch die gegenwärtig für ihn verbindlichen
Werte nicht bedrohen, da die "Andersheit" fremder Kulturen von der Lebenswelt
des Anthropologen hermetisch abgeschottet bleiben kann. (12) Für den indischen
Anthropolgen besteht jedoch keine Möglichkeit, sich an der Entmystifizierung
der ÈuniversalistischenÇ, ÈobjektiviertenÇ Kategorien der westlichen Soziologie
zu beteiligen, indem er die Spuren einer fremden Kultur in der Entstehung dieser
Kategorien nachweist. Damit steht dem westlichen Anthropologen die Möglichkeit
offen, durch intellektuelle Aneignung anderer Werte seine eigene Ideologie zu
überschreiten; für den indischen Anthropologen dagegen gibt es keine
legitime Weise, das gleiche Verfahren auf die Ideologie seiner Kultur anzuwenden.
DieWissenskategorien nicht-westlicher Kulturen sind blosse Überzeugungen
ohne epistemologisches Fundament, während die westlichen Kategorien den Status
wissenschaftlicher und objektiver Wahrheiten annehmen. Zudem ist einer Soziologie,
die etwa auf den Werten einer anderen als der westlichen Kultur gründet,
jede Zukunft versperrt, da von vornherein feststeht, dass eine solche Soziologie
faschistisch wäre - Èneo-hinduistischÇ, ÈprovinziellÇ und ÈrückwärtsgerichtetÇ.
Damit ist das Schicksal indischer Wissenssysteme besiegelt. Sie mögen ihren
Platz in der Ideengeschichte haben; "wir aus dem Westen können sie intellektuell
erfassen und können mit ihrer Hilfe die Grenzen ÈunsererÇ Ideologie überschreiten;
doch als Mittel zum Aufbau von Wissenssystemen, in denen der moderne Inder heimisch
ist, stehen sie nicht zur Verfügung. Andere Kulturen erlangen Legitimität
nur als Gegenstände des Denkens - nie als als Instrumente des Denkens. Ich
behaupte nicht, dass Dumonts Werk damit erschöpfend beschrieben wäre
und sonst keinen Wert hätte. Ich sage nur, dass der indische Anthropologe
überall, wo er von Dumonts Diskurs unmittelbar angesprochen wird, auf die
Rolle eines Informanten beschränkt wird. (13) Die Bedingung dafür, dass
der nicht-westliche Anthropologe am soziologischen Diskurs teilnehmen darf, ist
der aktive Verzicht auf das gegenwärtige Potential seiner Kultur. Dumont
schreibt:
"Wenn es keinen "Blick
von aussen, keinen Vergleich und keine Objektivität gäbe, dann könnte
es so viele "Soziologien" geben, wie es verschiedene Kulturen gibt.
Doch wenn Dr. Madan beklagt, dass die indischen Gelehrten westliche Wissenschaftler
auf dem Gebiet der Soziologie nur nachgeahmt hätten, so ist dieser Satz doppeldeutig.
Meint er, dass indische Soziologen einen originellen Beitrag im Rahmen der (westlichen)
Soziologie hätten leisten können, aber nicht geleistet haben (was richtig
sein mag), oder meint er, sie hätten eine eigene Soziologie aufbauen sollen,
die sich von der westlichen Soziologie grundsätzlich unterscheidet (womit
er ganz und gar unrecht hätte)? Eine hinduistische Soziologie ist ein Widerspruch
in sich ..."(14)
Der abwesende Andere: Der Brahmane
als ungebetener
Gast
Ich wende mich nun einem anderen wichtigen Merkmal der Soziologie
Dumonts zu, nämlich ihrer Fixierung auf den Begriff
der Totalität,
auf eine stabile Realität und damit auf ein stabiles Repräsentationssystem.(15)
Ich behaupte, dass diese
Stabilität eines Repräsentationssystems
dadurch erreicht wird, dass er eine bestimmte Weltsicht - nämlich die (oder
genauer: eine) von brahmanischen Traditionskonzepten geprägte - privilegiert
und annimmt, diese Weltsicht könne die indische Gesellschaft als "objektive
Totalität" der Welt repräsentieren. Ich will sogleich hinzufügen,
dass diese objektive Totalität für Dumont keinen empirischen oder quantitativen
Begriff darstellt. Vielmehr benutzt Dumont den Begriff der Hierarchie, um die
Spuren kontingenter Umstände aus der begrifflichen Repräsentation zu
löschen und so diezugrundellegenden Gesetze der indischen Gesellschaft und
Geschichte zu erfassen. Erinnern wir uns an seine Feststellung, dass der gesamte
Verlauf der indischen Geschichte das hierarchische Verhältnis bestätigt
zwischen dem Prinzip der Religion, für das der Brahmane steht, und dem Prinzip
der weltlichen Macht, das vom Kshatriya König repräsentiert wird: "politische
Zwietracht um der religiösen Einheit willen".
Gerade diese Verknüpfung
des Totalitätsprinzips mit dem Hierarchieprinzip hat es Dumont erlaubt, der
Kritik an seiner Vernachlässigung anderer Werte in der indischen Gesellschaft
dadurch zu begegnen, dass er solche Werte als empirisch vorhanden, jedoch als
theoretisch residual behandelt. So werden die Praktiken niederer Kasten verächtlich
mit der Bemerkung abgetan: "Weil Barbiere sich gegenseitig rasieren, möchte
jemand daraus schliessen, dass "Gleichheit und Reziprozität" in dem System
die gleiche Bedeutung haben wie Hierarchie. (16) Der Hinweise auf Praktiken in
unteren Kasten, die zu den brahmanischen Praktiken im Widerspruch stehen, sollte
den Begriff eines "Systems" oder einer "Totalität" ja
gerade in Frage stellen, einer Totalität, welche die Weltsicht des Brahmanen
privilegiert und ihr den Status einer "objektiven" Wahrheit einräumt,
statt sie als umstrittene Position zu behandeln. Indem er allein dem Brahmanen
eine "Stimme" verleiht, schreibt Dumont in der Tat an einem narrativen
Grundmuster mit, welches die brahmanischen Weltauffassungen irgendwie als repräsentativ
für die indische Gesellschaft betrachtet.
Wie kam es, dass die brahmanische
Weltsicht im anthropologischen Diskurs über Indien derart privilegiert wurde?
Richard Burghart gibt eine interessante Erklärung dafür, warum vor allem
der Brahmane zum "Anderen" im Diskurs der indischen Anthropologie wurde.
(17) Als sich die Anthropologen für den indischen Subkontinent als Arena
anthropologischer Interpretationen zu interessieren begannen, fanden sie, dass
er "bereits von Leuten besetzt war und definiert wurde, die sozusagen das
lokale Pendant zu den Anthropologen darstellten - nämlich von Brahmanen und
Asketen, die im Namen Brahmas über das soziale Universum sprachen."
Die Begegnung zwischen diesen beiden Arten der Wissensproduktion - der des Brahmanen
und der des Anthropologen - ist Burghart zufolge deshalb von Interesse, weil "beide
Arten von Personen soziale Beziehungen zu einem System totallsieren, in dem sie
als Wissende agieren und in dem ihr Wissen über das aller anderen Akteure
hinausgeht". (18) Er beschreibt dann, wie die unterschiedlichen Formationsweisen
von anthropologischem Wissen über Indien hauptsächlich von derjeweiligen
Art des Dialogs zwischen dem Anthropologen und der brahmanischen Tradition abhingen.
Diese Dialoge reichen, wie Burghart meint, von bewusster Meldung der brahmanischen
Tradition (wie im Werk des indischen Anthropologen M. N. Srinivas) bis zu deren
vollständiger Nachahmung (wie bei Louis Dumont). Der Orientalismus-Vorwurf,
der von Said (19) erhoben und kürzlich von Inden (20) mit Bezug auf Indien
wiederholt wurde - dass nämlich der Orient eine europäische Projektion
sei -, zielt also hier an der Sache vorbei: Nach Burgharts Meinung gehen die unterworfenen
Völker, die Objekte der anthropologischen Forschung, in den Text des Anthropologen
durchaus nicht nur als Lieferanten von Rohdaten ein, sondern auch als Leute, die
an der Gestaltung des Forschungsprojekts und an seinem Ergebnis aktiv beteiligt
waren. "Doch in seinem Bewusstsein übersteigt der Ethnograph das Feld;
nachträglich setzt er Beobachtungen aus verschiedenen Zusammenhängen
in Beziehung zueinander, und diese Überschreitung der Grenzen des Feldes
prägt den Text nachhaltig. Kann man jetzt noch sagen, dass zumindest im Text
Spuren des Untersuchungsobjektes erhalten bleiben, nicht als "Rohdaten", sondern
als Gestalter dieser Daten - leichsam als Agenten einer fremden Macht, die zwischen
den Zeilen des Textes lauern . (21)
Mit
dieser Einsicht unternimmt Burghart nun eine Analyse der Werke Dumonts und kommt
zu der Auffassung, dass die brahmanischen Gesprächspartner Dumonts keineswegs
nur passive Objekte gelehrter Wahrnehmung gewesen seien, sondern seine Repräsentation
der Kaste ermöglicht und geprägt hätten. Eigentlich ist "Repräsentation"
in diesem Zusammenhang nicht das richtige Wort, denn Burghart stellt fest: "Meine
Dumont-Lektüre beginnt mit dieser Beobachtung und führt letztlich zu
der Ansicht, dass die Besonderheit von Homohierarchicus nicht darin liegt,
dass Dumont in diesem Buch das brahmanische Verständnis der hinduistischen
Gesellschaft repräsentiert, sondern in seiner Nachahmung der brahmanischen
Repräsentation der hinduistischen Gesellschaft." (22) Zur Rechtfertigung
dieser These untersucht Burghart zwei verschiedene Merkmale des brahmanischen
Traditionsverständnisses. Das erste bezieht sich auf die Konstitution der
Zeit, wonach die Gegenwart ein Abbild der Vergangenheit ist. Das zweite ist die
besondere Beziehung zwischen Text und Welt. (23) In der brahmanischen Zeittheorie,
wie sie von Burghart aufgefasst wird, werden zeitliche Unterschiede durch die
Herstellung einer funktionalen Äquivalenz zwischen unterschiedlichen Praktiken
in Entsprechung gebracht. So wird etwa in der Entropie des Bewegungsbegriffs zwischen
dem ersten Zeitalter, der Epoche der Wahrheit (satya yuga), und dem letzten
Zeitalter, der Epoche der Zeit und des Todes (kali yuga), eine Reihe von
Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Arten ritueller Praktiken hergestellt.
Um das Verdienst zu erlangen, für das im ersten Zeitalter strikte Askese
erfordert ist, genügt im letzten Zeitalter, in dem die Menschen geschwächt
und zu strenger Askese unfähig geworden sind, die Wiederholung des Namens
Gottes. Diese besondere Konstruktion des Zeitbegriffs erlaubt es, die Gegenwart
als Abbild der Vergangenheit zu betrachten. Dieses brahmanische Verständnis
von Tradition tritt nun, als "Transformation" kostümiert, im anthropologischen
Diskurs auf, so dass die Gabe beispielsweise als Transformation des Opfers betrachtet
werden kann; oder im Gewande bestimmter Metatermini, die es erlauben, Begriffe
wie dharrna, karma und so weiter in einer Vielzahl von Zusammenhängen
zu verwenden, die zeitliche Entfernungen überbrücken und jede Diskussion
über die Beziehung zwischen Terminus, Begriff und Kontext kurzschliessen.
Burghart formuliert das folgendermassen:
"Dank dieser Stabilität
konnte eine bestimmte Art europäischer Gelehrsamkeit entstehen. Nach akademischer
Arbeitsteilung erforschen Indologen das klassische Altertum, Historiker die Vergangenheit
und Anthropologen die Gegenwart; doch die Struktur des brahmanischen Traditionsverständnisses
erlaubt es Anthropologen, Historikern und Indologen, über die hinduistische
Gesellschaft zu diskutieren, als wäre sie ihr gemeinsames Problem. Dumonts
Eintreten für eine Soziologie Indiens, die dort angesiedelt wäre, wo
Indologie und Anthropologie zusammenfliessen, ist eine methodologische Erfindung,
zu der Dumont durch die methodologischen Konventionen der Brahmanen gelangte."
(24)
Mit anderen Worten, eben weil die brahmanische Tradition Geschichte
als eine Abfolge von Ähnlichkeiten sieht, kann Dumont so tun, als bezögen
sich die Kasten, wie sie in den Manu-Texten des zweiten Jahrhunderts vor Christus
vorkommen, und die Kasten, wie sie in der Dorfgesellschaft des heutigen Indiens
funktionieren, auf dieselbe ethnographische Realität.
Als zweiten
Punkt hebt Burghart hervor, dass nach brahmanischem Traditionsverständnis
Texte ihre Autorität nicht von der Erfahrung herleiten, sondern von der Tatsache,
dass sie von göttlichen Personen geäussert wurden, die dem Wandel der
Zeiten enthoben sind. "Texte sind authentisch, insofern Erkenntnis den Gegenstand
vorwegnimmt und die Erzählung dem Ereignis vorausgeht." (26) Ausserdem
schreiben Texte (einschliesslich der Dharmashastras, welche die Regeln
für unser Benehmen angeben) Verhalten nicht in dem Sinne vor, dass sie bestimmte
Bereiche von Verpflichtungen festlegen würden; vielmehr beschreiben sie Verhaltenscodes,
die als vorbildlich oder wünschenswert gelten. Deshalb wurde das tatsächliche
Verhalten gewohnheitsrechtlich geregelt, und nicht einmal der König war berechtigt,
die Gewohnheitsrechte des Volkes zu ändern.` Burghart schliesst daraus, dass
nach brahmanischem Traditionsverständnis die Texte nicht faktisch gültig
sein mussten. Entscheidend für dieses Traditionsverständnis war vielmehr
die Unterscheidung zwischen lokalen Umständen, die gewohnheitsrechtlich geregelt
wurden, und autoritativem Wissen, das nur die Texte enthielten. Srinivas brachte
diesen Unterschied auf eine handliche Formel, indem er "Buchwissen"
und "Weltwissen" in der indischen Gesellschaft scharf voneinander abgrenzte
und das letztere dem Anthropologen als legitimes Forschungsgebiet vorbehielt.
(27) Dumont jedoch, so Bürghart, imitierte diesenUnterschiedbloss,indemerzwischen
empirischen Wahrheiten und Ideologie eine hierarchische Beziehung herstellte,
mit der er Abweichungen von den Textwahrheiten schlicht als Überreste behandeln
konnte. Es wäre also weit gefehlt, das Bild Indiens als Projektion europäischer
Einbildungskraft aufzufassen; vielmehr gelingt es der brahmanischen Imagination,
die europäische Repräsentation Indiens mimetisch zu gestalten.
Burgharts
Formulierung gehört zweifellos zu den aufschlussreichsten Deutungen, die
sich in der Literatur über Dumont finden. Doch inwieweit hat er recht, Homo
hierarchIcus als Beispiel interkultureller Mimesis zu kennzeichnen? Zunächst
einmal beschäftigt sich Burghart nicht mit der Frage, ob seine eigene Formulierung
der brahmanischen Traditionsauffassung nicht vielleicht selbst schon eine Repräsentation
ist, in der eine Vielzahl von Stimmen zu einer einzigen verarbeitet wurde. Und
wenn er zweitens meint, zwischen den Zeilen des Homo hierarchicus lauere
der Brahmane als Agent einer fremden Macht, achtet er kaum darauf, wie Dumont
hier seine Argumentation für die Beschränkung sogenannter traditioneller
Werte und Weltauffassungen auf die Vergangenheit dieser Gesellschaften aufbaut,
so als hätten sie nicht das Potential, eine Kritik der Moderne anzubieten.
Doch ich möchte diesen Abschnitt mit der Schlussbemerkung Burgharts und einem
Kommentar dazu beenden:
"Mein Forschungsinteresse richtete sich in
diesem Essay mehr auf den interlinearen als auf den den intertextuellen Dialog,
da der Dialog zwischen dem Anthropologen und seinem lokalen Gegenüber eine
binnenorientierte regionale Ethnographie hervorgebracht hat, in der grundsätzliche
Fragen danach gestellt werden, wie eigentlich ethnographische Texte geschrieben
und gelesen werden können. Wie "schreibt" man die Kultur eines Volkes, die
bereits von einheimischen Informanten "geschrieben" wurde? [ ... ] Konzentriert
man sich auf den interlinearen Dialog, so wird klar, dass ethnographische Texte
über die hinduistische Gesellschaft - auch wenn sie nur von einem Autor gezeichnet
werden - das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels[complex agency] sind.
Auch wenn der Dialog zwischen dem Ethnographen und seinem lokalen Gegenüber
nicht in der Form des Textes zum Ausdruck kommt, macht er den Text zu einer Sammlung
von Artefakten. Überdies zeigt die meta-anthropologische Perspektive, in
der dieser Dialog sichtbar wird, dass "Dialog" keine postmoderne Lösung für
bestimmte Probleme der Repräsentation "ethnographischer Realität"
liefert. Vielmehr wird der Dialog gerade im Scheitern aller Repräsentationen
dieser Realität erkennbar. Doch es stellt sich die Frage, ob dieses Scheitern
speziell für den hinduistischen Kontext kennzeichnend ist, in dem der Ethnograph
privilegierten einheimischen Informanten begegnet, die über bestimmte begriffliche
Vorstellungen von Realismus, über hierarchische Wissensansprüche und
nichtkonsensuelle Wahrheitsauffassungen verfügen. Oder geht dieses Scheitern
allgemeiner auf das Problem der Selbstrepräsentation zurück? Vielleicht
ist es für die Südasienforscher an der Zeit, nach draussen zu blicken
und in einen intertextuellen Dialog mit ihren Kollegen einzutreten. (28)
Weiter
oben habe ich bereits darauf hingewiesen, dass ein "intertextueller Dialog"
in Dumonts Werk durchaus stattfindet, aber auf seine westlichen Kollegen beschränkt
ist. Wenn Burghart recht hat, dass Dumonts Werk als Nachahmung der brahmanischen
Traditionsauffassung zu kennzeichnen ist, so fällt um so mehr auf, dass Dumont
sein Gegenüber, den Brahmanen, in der Vergangenheit Indiens ansiedeln will.
jeder Versuch, eine soziologische Sprache zu entwickeln, die in der indischen
Tradition wurzelt, ist einer geistigen Auseinandersetzung nicht wert und wird
schlicht als Gefahr für den Aufbau einer indischen Nattion betrachtet - den
Prüfstein für moderne Werte. Die Zukunft eines solchen Wissenssystems
ist nicht offen; dass es sich als faschistisch erweisen wird, liegt von vornherein
fest. Um diese besonderen Momente von Dumonts Werk kümmert sich Burghart
nicht, sowenig er seine Überlegungen zu den sogenannten "einheimischen
Sozialanthropologen" (wie etwa Srinivas) und ihre Rolle in diesem intertextuellen
Dialog fortführt. Sind diese einheimischen Sozialanthropologen als einheimische
Informanten zu betrachten? Verdienen sie es, in die Forschergemeinschaf der Anthropologen
aufgenommen zu werden, sofern sie auf alle Wissensformen verzichten (also nicht
nur solche Wissensformen überschreiten), die sie als Mitglieder der Gesellschaft,
über die sie nun schreiben, erlangt haben? Mit diesen Fragen kommen wir auf
das eingangs gestellte Problem zurück: Welchen intellektuellen Raum kann
die Anthropologie in Indien beanspruchen? Könnte man die Begriffe Gemeinschaft
und Tradition, auf die Saran sich stützt, als tragfähige Grundlage einer
alternativen Anthropologie betrachten?
Gemeinschaft, Tradition und
Nostalgie
Der Begriff der Gemeinschaft war in der klassischen soziologischen
Literatur eng mit der Vorstellung eines räumlich begrenzten Gebiets unmittelbarer
zwischenmenschlicher Beziehungen auf der Grundlage einer eingelebten Moralordnung
verbunden. Doch die Gemeinschaft richtet sich in der modernen Welt nicht als Bereich
unmittelbarer zwischenmenschlicher Beziehungen ein, sondern stellt sich als imaginierte
Gemeinschaft dar, die Loyalität von Leuten fordert, die in keinen konkreten
Beziehungen zueinander stehen, indem sie Bilder von Gemeinsamkeit und Einklang
erzeugt. Es ist jedoch interessant zu beobachten, dass die Krise der Moderne,
wie sie im Tode Gottes zum Ausdruck kommt, das nostalgische Bild eines Gemeinschaftsverlusts
heraufbeschworen hat, nicht nur in Indien, sondern auch in den Reflexionen der
klassischen Soziologie. So ist etwa der Begriff der Gemeinschaft - in Tönnies
(30) Gegenüberstellung zum Begriff der Gesellschaft - aus dem Bedürfnis
nach einem echten, organischen Leben zu verstehen, während Gesellschaft als
eine Form des sozialen Verhältnisses charakterisiert wird, die auf den künstlichen
und mechanischen Beziehungen eines reflexiven Willens beruht. So ist die Formulierung
von Tönnies zu verstehen, dass man die Gesellschaft betritt wie ein fremdes
Land. In neueren Studien wurde Gemeinschaft als ein Mittel betrachtet, das zur
Remoralisierung von Lebensbereichen beitragen kann, die durch das Anwachsen einer
bürokratischen, unpersönlichen Rationalität ihren moralischen Sinn
verloren haben? (31) Für uns wirft dieser nostalgische Rekurs auf die Gemeinschaft
hauptsächlich zwei Probleme auf. Da wir erstens nicht wissen, in welchem
Masse bei der Definition einer solchen Gemeinschaft Gewalt eine Rolle spielt,
liefert die nostalgische Sicht eher ein geschöntes Bild von Tradition und
Gemeinschaft. Zweitens wird dabei die Tatsache übersehen, dass die Gemeinschaft
im heutigen Rahmen ebensosehr von Strukturen der Moderne (einschliesslich des
bürokratischen Rechts) bestimmt wird wie von einer eingelebten gewohnheitsrechtlichen
Ordnung. Der Gedanke, dass eine in Indien wurzelnde Soziologie ihre raison
d'tre in der radikalen Kritik der modernen Lebensauffassung findet, beflügelt
die Arbeiten vieler Sozialwissenschaftler des heutigen Indiens. Eine deutlich
vernehmbare Stimme im Chor derer, die diese Vision ausmalen, ist die von Saran.
Für ihn bedeutet die Thematisierung der Tradition weniger eine Rückkehr
zu einer ruhmreichen Vergangenheit als vielmehr die Entwicklung eines anderen
Begriffs von "Normalität", der geeignet wäre, die Pathologien
der modernen Gesellschaft - wie Saran sie sieht - in Frage zu stellen? (32) Das
am weitesten ausformullerte politische Credo,das sich dieser Herausforderung stellen
könnte, ist Saran zufolge im Denken Gandhis zu finden. Dieses Denken lasse
sich jedoch nicht getrennt von der Tradition untersuchen, der es zugehört.
"Man
muss über Gandhis Werk [sic] hinausgehen und immer tiefer in sein Leben-und-Denken
eintauchen; man muss danach streben, den Mittelpunkt des Gandhischen Denkens zu
erreichen, das Zentrum, von dem Gandhi ausgeht und zu dem er zurückkehrt...
Gandhi bemühte sich darum, ein Zentrum gänzlich jenseits der modernen
westlichen Zivilisation zu entdecken. Was gewöhnlich als Ursprüngliche
Tradition" bezeichnet wurde, ist dieses Zentrum." (33)
Während
viele Gelehrte annehmen würden, dass eine so tiefe spirituelle Weltsicht
ihren Platz im Bereich der geistigen Bildung des Menschen hat, also vom Gebiet
der Politik weit entfernt liegt, meint Saran, dass gerade die Politik der angemessene
Ort sei, eine so "radikal spirituelle" Kritik zu üben. Grundlage dieser
Kritik ist eine Prüfung des menschlichen Lebens unter dem Gesichtspunkt dreier
Beziehungen: des Menschen zur Natur, des Menschen zum Menschen und des Menschen
zum Göttlichen. Saran meint, dass die Fragmentierung des menschlichen Lebens,
wie sie sich in der modernen Lebensauffassung vollzogen hat, auf der Trennung
dieser drei Arten von Beziehungen beruht, während nach traditioneller Sicht
die Beziehung des Menschen zu Gott das Muster für alle übrigen Arten
von Beziehungen liefert. Folglich beruhen moderne Begriffe wie das Wettbewerbsprinzip,
der Wunsch, das Leiden zu besiegen, und der Fortschrittsgedanke auf "Unwahrheit".
Unter diesen Umständen fällt es Saran nicht schwer,
sich Gandhi
Ideen zu den Übeln der modernen westlichen Medizin oder der modernen westlichen
Erziehung zu eigen zu
machen. Gandhi hatte erklärt, dass die moderne
westliche Medizin der konzentrierte Extrakt Schwarzer Magie sei und dass
Hospitäler
Werkzeuge des Teufels seien. Saran begründet seine Unterstützung Gandhis
übrigens nicht nur mit den Exzessen der modernen Medizin, sondern mit einer
anderen Theorie des Leidens überhaupt.
"Krankheit kann Körper
und Geist des Menschen befallen, doch in traditionellen Gesellschaften, die stets
um beide besorgt sind, wird zwischen körperlichen, psychischen und spirituellen
Krankheiten nicht scharf unterschieden. jede Krankheit und jedes Leiden hat eine
spirituelle und kosmische Bedeutung, da alles Unwissen letztlich Unkenntnis dessen
ist, wer man ist. Alles Wissen ist folglich Erkenntnis des eigenen wahren Selbst
(Autologie), und alles Heilen ist Heilen der Wunde der Unkenntnis des eigenen
wahren Selbst." (34)
Diese sehr eindringliche Passage bezeichnet aber
auch die Grenzen, auf die ein solcher visionärer Entwurf eines anthropologischen
Raumes in den heutigen Erkenntnistheorien stösst. Kurz gesagt Saran ist jener
Vorstellung erlegen, die in der traditionellen indischen Zivilisation das Andere
(man möchte fast sagen: ein extraternitorlales Anderes) der Vernunft sieht.
Während Dumont völlig fehlging mit der Annahme, Saran sei nur zu kulturellem
Solipsismus imstande, führt die Neigung zur Totalisierung in Sarans Denken
dazu, dass bei ihm die Tradition über jede strittige Frage erhaben ist. Die
Erfahrung lehrt freilich, dass die Tradition in der indischen Gesellschaft (wie
in den meisten vergleichbaren Gesellschaften) doppelt verankert ist: einerseits
in Institutionen, die als traditionell gelten dürfen, wie Kaste oder Religion,
und andererseits in Institutionen, die als modern betrachtet werden können,
wie Bürokratie oder Recht. Ein unverdorbenes traditionales telos findet sich
in der heutigen indischen Gesellschaft ebensowenig wie eine moderne Institution,
etwa ein Gerichtshof, der von seinem gesellschaftlichen Umfeld nicht eine gewisse
Färbung angenommen hätte.
Gerade diese doppelte Verankerung macht
aus Institutionen wie der Kaste oder der religiösen Gemeinschaft etwas Neues
und Eigentümliches, wobei nicht etwa bloss alten Merkmalen neue addiert werden.
Wenn Gandhi zum Beispiel satyagraha als eine Form des gewaltfreien Widerstands
gegen die britische Herrschaft benutzt, verwandelt er einen traditionellen Begriff
in einen neuen. Nur im Rahmen der brahmanischen Zeittheorie, von der weiter oben
in diesem Beitrag die Rede war, kann Saran in dieser Begriffsverwendung einen
Fall "traditionellen" Denkens sehen. Ranajit Guha gelingt eine sehr
treffende Formulierung dieses Arguments, wenn er von einer Gesamtheit überdeterminierender
Wirkungen spricht, die in einer doppelten Bedeutung gründen, in der "die
ideologischen Momente der sozialen Widersprüche, die im vorkolonialen Indien
und im modernen England bestanden, mit denen der lebendigen Widersprüche
der Kolonialherrschaft verschmolzen wurden, um die Beziehung Dominanz/Unterordnung
zu strukturieren." (35)
Wenn diese doppelte Verankerung das Merkmal
von Tradition wie von Modernität im heutigen Indien ist, können wir
nicht auf den Begriff "Fortschritt" zurückgreifen, um die "Tradition"
zu kritisieren. Umgekehrt ist es aber auch nicht möglich, sich beim Entwurf
einer Alternative zur Fortschrittsvision auf ein nostalgisches Ideengebilde zu
stützen. Anders als Dumont können wir den Nationalstaat nicht in seinem
Anspruch bestärken, Quelle aller Werte zu sein; doch ebensowenig können
wir uns Saran anschliessen und seinem Konzept eines totalen "traditionellen
Menschen" folgen. Wenn man sich vor Augen hält, dass Kultur ein Konstrukt
ist und dass die ethischen Räume, in denen sich die Sozialwissenschaften
ansiedeln können, Gegenstand von Auseinandersetzungen sind, so bleibt der
Anthropologie als vertretbare intellektuelle Position 36 offenbar nur noch die
Möglichkeit, sich den Verlockungen des Konsenses im Namen sowohl der Moderne
wie auch der Tradition zu verweigern. Anders als die Sozialwissenschaftler, die
als Teil der antikolonialen, nationalistischen Bewegung in die Welt des Wissens
eintraten, muss die neue Generation von Sozialwissenschaftlern in Indien mit der
Zerstörung von Gewissheiten als der einzigen Bedingung der Produktion von
Wissen über die indische Gesellschaft leben. Diese Wissenschaftler können
Indien nicht "repräsentieren", als ob Indien abwesend und stumm
wäre. Sie können nur mit ihrer Stimme in den vielstimmigen Chor einfallen,
in dem Aussagen aller Art (präskriptive,normative, deskriptive, indikative)
einen latenten Krieg um den Charakter der indischen Gesellschaft führen -
vor allem darum, welchen Platz dem Gedächtnis in dieser Gesellschaft zukommen
soll.
Nachbemerkung
In seinem abschliessenden Essay zu dem vielgelesenen
Sammelband Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnegraphys tellte
Paul Rabinow fest, dass seit den einflussreichen Schriften von Talal Asad und
Edward Said die Beziehungen zwischen WeltPolitik und Anthropologie ("The
West versusThe Rest", wie er sagt) unverrückbar auf der Tagesordnung
anthropologischer Debatten stehen. Wie er jedoch zuvor bemerkt hatte, "[lassen]
die Metareflexionen über die Krise der Repräsentatio in der ethnographischen
Literatur [ ... ] erkennen, dass das Interesse an den Beziehungen zu anderen Kulturen
nachgelassen hat. An ihre Stelle ist die (nicht thematisierte) Beschäftigung
mit Traditionen der Repräsentation sowie mit Metatraditionen von Metarepräsentationen
in unserer Kultur getreten. " Im vorliegenden Beitrag hoffe ich gezeigt zu haben,
dass die Beziehung, in der die westliche Forschung zu anderen Kulturen steht,
nicht bloss die Beziehung zum Anderen als ethnographischem Objekt ist. Unterhalb
davon stellt sich das Problem des Verhältnisses zwischen verschiedenen Wissenstraditionen.
Mit der Verwendung des Possessivpronomens "wir" ("unsere Kultur",
heisst es bei Rabinow in dem zitierten Satz!) beansprucht selbst die radikale
Kritik der Anthropologie noch ein Eigentumsrecht an den anthropologischen Schreibwelsen
einzig für jene, die sich in diese Tradition stellen können. Die Herausforderung
an die Anthropologie und an jene, die sich auf diese Tradition stützen, selbst
wenn sie ausserhalb der von der westlichen Kultur geschaffenen Metatraditionen
leben und arbeiten, lautet: Lässt sich der Plural "wir" so erweitern,
dass er "dich" und "Mich" umfasst, oder ist er zwangsläufig
nur eine Verstärkung des "ich"? So gesehen könnte die indische
Soziologie oder Anthropologie vielleicht gerade in der Marginalität, in der
sie zu den vorherrschenden Traditionen der westlichen Anthropologie steht, eine
Quelle der eigenen Erneuerung finden.
1. Dieser Artikel erhebt
nicht den Anspruch, einen umfassenden Überblick über diese Frage zu
liefern. Er beschränkt sich vielmehr auf einige Probebohrungen auf dem Gelände
der sozialwissenschaftlichen Literatur, um Licht auf bestimmte Probleme zu werfen,
die der anthropologische Diskurs über die indische Gesellschaft stellt.
2.
Louis Dumont, Homo hierarchicus. Essai sur le systme des castes, Paris:
Gallimard 1966. Englisch: Homo Hierarchicus. The Caste System and its Implications,
London; Weidenfeld & Nicholson (und Chicago: University of Chicago Press) 1970;
erstmals vollständige, zum Teil revidierte englische Ausgabe: London/Chicago:
The University of Chicago Press 1980. Deutsch: Gesellschaft in Indien. Die
Soziologie des Kastenwesens, übersetzt von Margarete Veniakob, Wien:
Europaverlag 1976.- Die zitierte Stelle findet sich nur im Vorwort der revidierten
englischenAusgabe,S.XXI.
3. Ebd., S. 18.
4. Ebd., S. 43
5.
Durnont, "For a Sociology of lndia", in: Contributions to Indian Sociology
(1957), S. 7-22.
6. Siehe das Editorial ("A First Step") in: Contributions
to Indian Sociology (1960), S. 7-12, hier S. 8 f.
7. A. K. Saran, Rezension
von Contributions to Indian Sociology (1960), in: Eastern Anthropologist
15 (1962) , S- 53-68.
8. Nelson Goodman und Catherine Z. Elgin, Revisionen.
Philosophie und andere Künste und Wissenschaften, übersetzt von
Bernd Philippi, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 203
9. Zu einer Analyse
dieser Auffassung siehe Steven Webster, "Dialogue and Fiction in EthnographyÇ,
in: Dialectical Anthropology 7 (1982) 2, S-91-114.
10. Louis Dumont,
"A Fundamental Problem in the Sociology of CasteÇ, in: Contributions to Indian
Sociology 9 (1966), S. 17-32, hier S. 26.
11. Ebd., S. 27
12.
Dumont war sehr im Irrtum mit der Vorstellung, Èandere KulturenÇ würden vorn
modernen westlichen Leben hermetisch abgeschottet bleiben. In Frankreich selbst
hat die Entscheidung muslimischer Mädchen, den Schleier in der Schule zu
tragen, zu erheblichen Auseinandersetzungen geführt. Die Salman-Rushdie-Affäre
brachte ans Licht, dass die englischen Gesetze gegen Blasphemie zwar für
die christliche Religion gelten, jedoch nicht auf andere Religionen anwendbar
sind. Es scheint, dass es im Rahmen moderner Globalgesellschaften sehr schwierig
werden wird, Kulturen in hermetisch voneinander abgeschotteten Abteilen getrennt
zu halten. Die an entfernten Orten erfahrene Andersheit ist in den europäischen
Gesellschaften bereits Teil der Alltagserfahrung. Siehe zum Beispiel Etienne Balibar,
ÈLe symbole et la vritÇ, in: Libiration vom 3. November 1989, und die Diskussion
unter dem Titel ÈL'islam face ‡ la RepubliqueÇ, in: Le Point, Nr. 893,
30. Oktober 1989.
13. Welche zentrale Bedeutung Dumonts Schriften über
Indien zukommt, wird von verschiedenen Symposien über sein Werk belegt. Ich
möchte noch einmal meine Bewunderung äussern für seine bemerkenswerte
Fähigkeit, Material aus sehr unterschiedlichen Bereichen unter dem Dach eines
einzigen theoretischen Ansatzes zusammenzubringen.
14. Siehe Dumont, ÈA
Fundamental Problem in the Sociology of CasteÇ , a.a.O., S. 23
15. Ironischerweise
zeigt sich diese Fixierung auf Totalisierung auch in Saran Soziologie; ein Punkt,
auf den ich noch zurückkommen werde.
16. So jemand kann natürlich
nicht einmal Anspruch auf einen Namen erheben! Dumont, Homo Hierarchicus,
englische Ausgabe von 1980, S. 341
17. Richard Burghart, ÈEthnographers
and Their Local Counterparts in IndiaÇ, in: Richard Fardon (Hg.), Localizing
Strategies. Regional Traditions of Etbnograpbic Writing, Edinburgh: Scottish
Academic Press (und Washington: Smithsonian Institution Press), S. 260-279.
18.
Ebd., S. 261.
19. Edward W. Said, Orientalismus, übersetzt
von Paul Mayer, Frankfurt/Berlin/Wien: Ullstein 1981.
20. Ronald Inden,
ÈOrientalist Constructions of IndiaÇ, in: Modern Asian Studies 20 (1986),
S. 40 1-446; ders., Imagining India, Oxford: Blackwell 1990.
21.Burghart,
ÈEthnographers and Their Local Counterparts in IndiaÇ, a.a.O., S. 266.
22.
Nämlich der Beobachtung, Èdass Dumont, kurz gesagt, ein europäischer
Brahmane istÇ.
23. Ebd., S. 268.
24. Burghart, "Ethnographers
and Their Local Counterparts in India", a.a.O., S. 269 f.
25. Ebd.,S.
270
26. Hier ist nicht der Ort, die Relevanz eines solchen Regelbegriffs
für das Verständnis der Natur des Rechts zu untersuchen. Ich will nur
bemerken, dass man in grosse Schwierigkeiten gerät, wenn man Gesetze als
Befehle konzeptualisieren will, da ein Grossteil der rechtlichen Regeln nicht
die Form von Vorschriften hat. Zu einer schlüssigen Kritik an der Konzeption
des Gesetzes als Befehl siehe H. L. A. Hart, Essays in jurisprudence and Philosophy,
New York: Oxford University Press 1983, S.57-62, und die beiden Aufsätze
von Ronald Dworkin über ÈDas RegelmodellÇ in: ders., Bürgerrechte
ernstgenommen, übersetzt von Ursula Wolf, Frankfurt am Main: Suhrkamp
1984, S. 42- 43. Algirdas j. Greimas und E. Landowski haben eine interessante
Konzeption des Gesetzes als Begehren entwickelt, die dem sanskritischen Begriff
einer Regel näherkommt. Siehe ÈAnalyse sdmiotique d'un discours juridiqueÇ,
in: Algirdas J. Greimas (Hg.), Semiotique et sciences sociales, Paris:Seuil
1976. Leider wurde die Struktur der Dharmashastras alls "Eigentümlichkeit"
der hinduistischen Gesellschaft betrachtet, so dass ihr potentieller Beitrag zur
Formulierung einer allgemeinen Regeltheorie noch kaum erforscht ist.
27.
Zur Kritik dieser Unterscheidung siehe Veena Das, Structure and Cognition.
Aspects of Hindu Caste and Ritual, Delhi: Oxford University Press 1977.
28.
Burghart, "Ethnographers and Their Local Counterparts in India", a.a.O., S. 277
29.
Das Gefühl, das Betreten des Feldes anzeigen zu müssen, als handelte
es sich dabei um ein fremdes Land, zeigt sich deutlich in M. N. Srinivas vas Bericht
über Rampura. Seinen schärfsten Ausdruck findet dieser Zwang jedoch
bei T.N. Madan, der von seinem engen Zusammenleben mit ÈFremdenÇ spricht. Diese
Fremden waren kaschmirische Pandite, Mitglieder seiner eigenen Gemeinschaft also
in einem Dorf nicht weit von dem Ort, wo Madan aufwuchs. Bei Srinivas finden wir
bemerkenswerte Überlegungen zu der Frage, was es bedeutet, dass er Brahmane
ist. Während die Probleme der Repräsentation des ÈäusserenÇ Anderen
in den letzten zehn Jahren grosse Beachtung gefunden haben ist eine vergleichbare
Beschäftigung mit der Andersheit, die in jede von uns liegt, bisher kaum
auf Interesse gestossen. Siehe T. 1 ÈOn Living Intimately with StrangersÇ, in
T. N. Madan (Hg.), Encounter and Experience. Personal Accounts of Fieldwork,
New Delhi: Vikas 197 5; M. N. Srinivas, Social Change in Modern India,
Berkeley: University of California Press 1966, S. 147-165; und ders., The Remembered
Village, Delhi: Oxford University Press 1976.
30. Ferdinand Tönnies,
Gemeinschaft und Gesellschaft.Grundbegriffe der reinen Soziologie (i.Auflage
1887), Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgesellschaft iggi.
31. Eine
durchschlagende Kritik an den klassischen Emanzipationstheorien wurde von Roberto
M. Unger in seinem Buch Knowledge and Politics, New York: The Free Press
1975 entwickelt. In der zweiten Auflage des Buches, die 1984 erschien, äusserte
Unger selbst einige Vorbehalte gegen seine unbekümmerte Erwartung, mit Hilfe
der Theorie organischer Gruppen eine Kritik an den restriktiven Annahmen formulieren
zu können, mit denen die klassischen Emanzipationslehren die möglichen
Formen gesellschaftlichen Lebens einengen (ebd., S- 340)
32. Siehe besonders
A. K Saran, "Gandhi and the Concep of Politics.Towards a Normal Civilization",
in: Gandhi Marg, Delhi, Februar 198a, S. 675-727. Zu Sarans Kritik an den
universalistischen Annahmen der modernen Soziologie vgl. seinen Artikel "Some
Reflections on Sociology in Crisis", in: G. Saran (Hg.) Crisis and Contention
in Sociology, Jaipur: Rawat Press 1979, S. 8 5-121.
33. Saran, "Gandhi
and the Concept of Politics", a.a.O., S.681.
34. Ebd., S-721.
35.
Ranajit Guha, "Dominance Without Hegemony and Its Historiography", in:
Subaltern Studies. Writings on South Asian History and Society, Bd. 6,
Hg. von Ranajit Guhal Delhi: Oxford University Press 1989, S.210-309
36.
Ich sollte an dieser Stelle in aller Offenheit feststellen, dass dies eine Position
ist, die ich selbst einnehmen kann.
37. Paul Rabinow, "Representations
Are Social Facts. Modernity and Post-Modernity in Anthropology", in: James
Clifford und George E. Marcus (Hg.), Writing Culture. The Poetics and Politics
of Ethnography, Berkeley: University of California Press 1986, S. 234-261,
hier: S. 251 [deutsche Übersetzung in diesem Band, hier S. 183
Literatur
Balibar,
Atienne (1989), "Le symbole er la vrite", in: Liberation vom
3. November 1989.
Burghart, Richard (iggo), "Ethnographers and Their
Local Counterparts in India", in: Richard Fardon (Hg.), Localizing Strategies.
Regional Traditions of Ethnographic Writing, Edinburgh: Scottish Academic
Press (und Washington: Smithsonian Institution Press), S. 260-279.
Das,
Veena (1977), Structure and Cognition. Aspects of Hindu Caste and Ritual,
Delhi: Oxford University Press.
Dumont, Louis (1957), ÈFor a Sociology
of IndiaÇ, in: Contributions to Indian Sociology , S. 7-22. (1960), "A
First Step", in: Contribution to Indian Sociology 4, S. 7-12. (1966),
"A Fundamental Problem in the Sociology ofCaste", in: Contributions
to Indian Sociology 9, S. 17-32. (1966), Homo hierarchicus. Essai sur le
systime des castes, Paris: Gallimard. Englisch: Homo Hierarchicus. The
Caste System and its Implications, London: Weidenfeld & Nicholson (und Chicago:
University of Chicago Press) 1970; vollständige, revidierte englische Ausgabe:
London/Chicago: The University of Chicago Press 198o. Deutsch: Gesellschaft
in Indien, Die Soziologie des Kastenwesens, übersetzt von Margarete Ven
Jakob, Wien: Europaverlag 1976.
Dworkin, Ronald (1984), "Das Regelmodell",
in: ders., Bürgerrecht, entgenommen, übersetzt von Ursula Wolf,
Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 42-143.
Goodman, Nelson und Catherine Z.
Elgin (1989), Revisionen. Philosophie und andere Künste und Wissenschaften,
übersetzt von Bernd Philippi, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Greimas,
Algirdas J. und E. Landowski (1976), "Analyse semiotique d'undiscours juridique",
in: Algirdas J. Greimas (Hg.), Semiotique et scz . encessociales, Paris:
Editions du Seuil.
Guha, Ranajit (1989), ÈDominance Without Hegemony and
Its HistoriographyÇ, in: Subaltern Studies. Writings on South Asian History
and Society, Bd. 6, hg. von Ranajit Guha, Delhi: Oxford University Press,
S.210-309.
Hart, H. L. A. (1983), Essays in jurisprudence and Philosophy,
New York: Oxford University Press.
Inden, Ronald (1986), ÈOrientalist Constructions
of IndiaÇ, in: Modern Asian Studies , S. 40-446.
(iggi), Imagining
lndia, Oxford: Blackwell.
Madan, T. N. (1975), ÈOn Living Intimately
with StrangersÇ, in: Andre Beteille und T.N.Madan (Hg.), Encounter and Experience.
Personal Accounts of Fieldwork, New Delhi: Vikas 1971.
Rabinow, Paul
(1986), ÈRepresentations Are Social Facts. Modernity and Post-Modernity in AnthropologyÇ,
in: James Clifford und George E. Marcus (Hg.), Writing Culture. The Poetics
and Politics of Ethnography, Berkeley: University of California Press, S.234-261
[deutsche Übersetzung in diesem Band].
Said, Edward W. (1981), Orientalismus,
übersetzt von Paul Mayer, Frank furt/Berlin/Wien: Ullstein.
Saran,
A. K. (1962), Rezension von Contributions to Indian Sociology 4 (1960),
in: Eastern Antbropologist, S 5 3-68.- (1979), "Some Reflections on
Sociology in Crisis", in: G. Saran (Hg.), Crisis and Contention in Sociology,Jaipur:
Rawat Press 1979, S. 85-122. (1980), "Gandhi and the Concept of Politics.
Towards a Normal Civilization", in: Gandhi Marg, Delhi, Februar 1980,
S. 675-727.
Srinivas, M. N. (1966), Social Change in Modern India,
Berkeley: University of California Press, S. 147-165. (1976), The Remernbered
Village, Delhi: Oxford University Press.
Tönnies, Ferdinand (1887),
Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt;
Wissenschaftliche Buchgesellschaft iggi.
Unger, Roberto M. (1975), Knowledge
and Politics, New York: The Free Press.
Webster, Steven (1982), "Dialogue
and Fiction in Ethnography", in: Dialectical Anthropology 7 (2), S.
91-140