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Title: Culture and Crime
Author: Hito Steyerl, 2000
Culture and Crime
Hito Steyerl
Ich bin an Einsamkeit
gewöhnt. Ist Einsamkeit meine Kultur?
Vor zwei Tagen sitze ich im Bahnhofslokal. In der Zeitung wird über Bombenanschläge
gegen Synagogen berichtet. Ein Mann kommt her. Er lallt: Bomben. Bomben. Mehr
Bomben. Dann schreit er mir ins Gesicht: Und fuer dich brauchen wir Napalm.
Ist Napalm seine Kultur?
Zeitgleich wird ein 50jähriger Deutscher aus China von vier Jugendlichen
angegriffen. Sie brüllen: "Du Ausländerschwein" und schlagen
ihn bis er blutet. Ich frage mich: welche Kultur hat der Geschlagene? Oder
aber umgekehrt: welche Kultur hat ihn geschlagen? Wenn er als Angehöriger
von Kulturen beschrieben wird, wieso nicht seine Peiniger? Und was für
eine Kultur ist eigentlich Rassismus?
Kultur ist ein weitläufiger Begriff. In seinem Land sei der Krieg zur
Kultur geworden, schreibt ein Filmemacher aus dem Tschad. Kultur sei ein Vehikel
von Zivilisation, Demokratisierung und Fortschritt, meinen wiederum andere,
vor allem im globalen Norden. Was die einen als Möglichkeit der Befreiung
empfinden, nehmen die anderen als Gewaltverhältnis wahr. Die einen nennen
es Kultur, die anderen Verbrechen. Was mit Kultur gemeint ist, ereignet sich
zwischen diesen beiden Polen. Es nützt nichts, zu versuchen den Begriff
der Kultur per Dekret auf sein progressives Potential einzuschränken.
Will man einen essentialistischen Kulturbegriff vermeiden, so ist Kultur all
das, was mit diesem Begriff vermittelt wird. Gewalt gehört dazu.
Ich habe einmal einen Film gedreht namens Homo Viator, der von Wallfahrtskirchen
handelte. Es stellte sich heraus, dass in den meisten Fällen das Ritual
der Wallfahrt auf dem Schauplatz eines Verbrechens vollzogen wurde. Frühe
Pilger wurden an diesen Orten erschlagen, weil sie Fremde waren. Sie wurden
verbrannt, zu Tode geprügelt, erwürgt oder fielen auf andere Weise
dem Lynchmob zum Opfer. Diese Morde schufen eine kohärente Gemeinschaft
der Mörder, ebenso wie ein Netzwerk von Orten, wo diese Verbrechen vergötzt
wurden. Auf diese Weise wird ein Rahmen geographischer und kultureller Orientierung
hergestellt. Das österreichische Nationalheiligtum in Melk ist ebenfalls
auf diese Weise entstanden. Kultur basiert hier direkt auf Verbrechen.
Tatsächlich stehen beide in engem Zusammenhang. Kultur entsteht im Spannungsfeld
von Distinktion und Diskriminierung. Eine Kulturgemeinschaft wird dadurch
geschaffen, dass die Grenzen des †ebereinkunft abgesteckt werden. Man brüllt
etwa: ãDu Ausländerschwein!Ò Was wir Kulturgüter nennen, seien die
Beutestücke, die im Triumphzug der Sieger mitgeschleift würden,
schreibt Walter Benjamin. " Was er (der historische Materialist) an Kulturgütern
überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht
ohne Grauen bedenken kann. (..) Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne
zugleich ein solches der Barbarei zu sein."
Kultur ist ritualisierte Gewalt. Dies wird evident, wenn der Horizont der
Debatte über den westlichen Tellerrand hinau erweitert wird. Feministische
Theoretikerinnen aus dem globalen Süden etwa beschreiben kulturelle Formationen
oftmals als Gewaltverhältnisse, gerade gegenüber Frauen. Brutale
Verletzungen körperlicher Integrität wie genitale Verstümmelung,
Witwenverbrennung, Brautkauf oder häusliche Gewalt werden vermittels
kultureller Erklärungen als Traditionen und Gebräuche gesellschaftlich
akzeptabel gemacht. Das Verbrechen wird somit als Kultur normalisiert. Das
ist nicht nur im globalen Süden so: schliesslich basiert auch der europäische
Gründungsmythos der Entführung Europas auf der Geschichte einer
Verschleppung und Vergewaltigung. Was wir somit für europäische
Kultur halten, ereignet sich vor dem Hintergrund dieser Gewalttat.
Die Kategorien des Kulturellen klingen in all jenen fundamentalen Distinktionen
an, die Unterdrückung und Gewalt ermöglichen. Gut. Böse. Normal.
Anormal. Ehre. Schande. Reinheit. Unreinheit. Im Namen bestimmter Kulturen
werden Frauen in der gewalttätigen Dunkelheit der Domestizierung verwahrt.
Im Namen der Kultur werden sie ausgebeutet, verschleppt, verstümmelt
und zum Schweigen gebracht.. Kultur ist somit die normalisierte Gewalt eines
Lebensstils. Oder auch: Gewalt als Gewohnheit.
Der Raum des Privaten
Kultur als Verbrechen ereignet sich unter spezifischen Bedingungen. Eine davon
ist eine bestimmte Auffassung von Raumzeit. Sie ist bestimmt durch die ewige
Wiederkehr bestimmter kultureller Gewohnheiten und begründet einen rechtlosen
Raum von Privatheit und Willkür. Dieser Raum des Privaten ist von Ritual
und Gewalt geprägt wird und politischer Argumentation und öffentlicher
Kontrolle unzugänglich. Hannah Arendt grenzt diese Sphäre aufs schärfste
von der des Politischen ab. Wo Privatheit zum Prinzip wird, herrschen Sklaverei
und Willkür. Dieses Gewaltverhältnis wird als natürliche Ordnung
verherrlicht .Dies ist das Grundprinzip der Ökonomie, die sich durch
naturalisierte Bedürfnisse legitimiert.
Arendt insistiert darauf, dass sich die raumzeitliche Organisation der Privatsphäre
in diesem Register des Ökonomischen und des mit ihm verbundenen ewigen
Kreislauf von Produktion und Konsumption bewegt. Es ist jene ewige Wiederkehr,
die jede Möglichkeit eines Wandels durch die Form der Zeit selbst unterbindet.
Sie wird als unveränderliche Ordnung der Dinge
naturalisiert. Das Private ist der Ort, an dem die Zeit gewaltsam zum Teufelskreis
gekrümmt wird, und wo die Natur durch Ritual, Wiederholung und Reproduktion
regiert. Eine zyklische Wiederholung, die in der Form jener industriellen
Produktion widerhallt, die an den Rändern spätkapitalistischer Produktion
den Alltag bestimmt: als Re-Produktion. Hausarbeit, Heimarbeit. Reproduktion
wird somit zum Begriff, der sich auf die Reproduktion von Machtbeziehungen
als natürliche bezieht.
Mit der globalen Durchsetzung kapitalistischer Produktionsformen haben sich
die Zonen der Privatisierung drastisch vermehrt. Der Raum des Privaten ist
überall dort, wo die Sphäre des Politischen beseitigt wurde und
Rechtlosigkeit herrscht: in Krieg und Bürgerkrieg ebenso wie im Gewaltverhältnis
globaler Hyperexploitation in halbprivatisierten Freihandelszonen, Halb-Kolonien
und Protektoraten. Am Schauplatz von Gewalt in der Familie. In der "national
befreiten Zone" ebenso wie im Schubhaftgefängnis. Das Private herrscht
dort, wo Politik nicht mehr hinreicht, und das Gesetz von Sippe und Racket
regiert.
Das Private bedeutet somit, der Möglichkeit derVeränderung beraubt
zu sein und aus der Sphäre des Politischen ausgeschlossen zu sein. Das
ist auch die ursprüngliche Bedeutung der Privatio: beraubt zu sein, und
einen Verlust zu erleiden, in diesem Falle den Verlust jeglicher Alternative.
Domestication of desire
Genau das ist umgekehrt der Grund, wieso das schwarze Loch zwischen Kultur,
Privatheit und Verbrechen im europäischen Westen als Territorium bürgerlicher
Freiheit und Selbstverwirklichung besetzt wurde. Das Begehren nach einer Veränderung
gesellschaftlicher Verhältnisse wurde in diesen domestizierten Raum verbannt.
Die Sphäre des Privaten wurde individuell internalisiert: als bürgerliche
Seele und somit als Reservat des Guten, Edlen und Schönen. Diese Eigenschaften
sollten in der domestizierten Welt der Seele ausgebildet werden, nicht jedoch
in der Aussenwelt politischer und ökonomischer Verhältnisse. Sie
wurden somit privatisiert.
Der Schauplatz gewohnheitsmässigen Verbrechens wurde in das Heiligtum
idealer Werte verwandelt, und somit in einen Ort an dem die progressive Utopie
des Liberalismus mit dem
unaufhörlichen Kreislauf des Terrors von Konsum und Reproduktion in eins
fiel.
ãDie Kultur meint nicht so sehr eine bessere wie eine edlere Welt: eine Welt,
die nicht durch einen Umsturz der materiellen Lebensordnung sondern durch
ein Geschehen in der Seele des Individuums herbeigeführt werden soll.Ò
Das Begehren nach einem besseren Leben wurde damit als Dekorationsstück
bürgerlicher Innerlichkeit verdinglicht, nämlich als Kulturgegenstand,
als Schmuckstück der Gelehrsamkeit. Diese Domestizierung des Begehrens
fand statt, weil es in dieser Sphäre des Privaten völlig wirkungslos
blieb, was die Veränderung ökonomischer und politischer Strukturen
betraf. Abweichende Standpunkte wurden geduldet sofern sie auf die Innerlichkeit
des Geschmacks, des Gewissens bzw der Privatmeinung beschränkt blieben:
nicht jedoch als Insurgenz oder Unbotmässigkeit gegenüber der Obrigkeit.
Kant, der die französische Revolution intellektuell ausserordentlich
bewunderte, befand dennoch, dass die praktische Umsetzung jeglicher Revolution
unter keinen Umständen legitim sei. Das Denken des Gelehrten und die
private Meinung sollten zwar nicht eingeschränkt werden - wohl aber das
politische Handeln.
Differenz statt Opposition
Vor diesem Hintergrund mag es paradox erscheinen, dass ausgerechnet die Sphäre
des Privaten im Gefolge der neuen sozialen Bewegungen als Bereich der Emanzipation
und der Befreiung ausgerufen wurde. Der Slogan der 70er, dass das Private
politisch sei, klingt in diesem Kontext wie eine bedrohliche Voraussage. Sie
erfüllte sich nicht durch die Politisierung des Privaten, sondern umgekehrt
- durch die Privatisierung des Politischen. In diesem Kontext sind die kulturalistischen
Praxen individueller Identitätspolitiken mit anderen Privatisierungsoffensiven
zu vergleichen, etwa der massiven Privatisierung öffentlicher Räume,
der Medien, der sozialen Aufgaben, oder ganzer Staaten und Landstriche. Es
scheint, als habe sich der Raum des Privaten, mitsamt der ihm innewohnenden
naturalisierten ökonomischen Gewaltverhältnisse massiv ausgedehnt.
Im globalen Norden beherbergt diese Sphäre des Privaten eine Vielzahl
verschiedener Lebensstil angebote. Diese suggererieren die Freiheit beliebiger
Konstruierbarkeit der Verhältnisse Ð insofern sie private bleiben und
auf die Anerkennung individuell kulturalisierter Identitäten beschränkt
bleiben. Differenz wird somit innerhalb des Systems kultureller Domestizierung
geduldet - nicht aber als Opposition gegenüber dem System selbst. Sie
wird integriert, sofern sie eine kulturelle ist - gleichzeitig jedoch als
politische negiert. Es ist gerade diese stetige Internalisierung und Integration
in die Sphäre von Ökonomie und Privatheit, die das Verfahren kultureller
Domestizierung charakterisiert. Politische Opposition wird somit durch kulturelle
Differenz ersetzt. Wer für diese kulturelle Identität optiert, wird
in der Differenz seines privaten Lebensstils anerkannt - indem er gleichzeitig
einwilligt , deren politischen Bedingungen gegenüber indifferent zu bleiben.
Die Differenz im Kulturellen übersetzt sich also in die Indifferenz gegenüber
dem Politischen.
Das Gesetz der "ungleichmässigen Entwicklung"
Was im Diskurs kultureller Differenz somit notwendig aus dem Blick gerät,
sind ihre politschen Bedingungen: im Kontext internationaler Arbeitsteilung
sind nur wenige in der Lage, Kultur als Werkzeug auch nur der privaten Veränderung
zu verwenden. Eine weisse Mittelklasseexistenz des Nordens, egal ob weiblich
oder männlich, hetero- oder homosexuell, wird nur durch die gleichzeitige
Ausbeutung vor allem von Frauen aus dem Süden ermöglicht. Beispiel
Habermas. Die Konstruktion der einen erfolgt auf Kosten der anderen, und so
ist selbst die privateste Identitätspolitik in die Produktionsweisen
des globalen Kapitalismus verstrickt. Die kulturelle Differenzierung der Privilegierten
basiert somit hauptsächlich auf der Reproduktion von politischer und
sozialer Ungleichheit. Was die einen kulturelle Differenz nennen, bedeutet
für die anderen soziale und politische Diskriminierung. Die stetige Reproduktion
von Ungleichheit bildet das Gesetz der ãungleichmässigen EntwicklungÒ
des globalen Kapitalismus. Diese "ungleichmässige Entwicklung",
das Gesetz ökonomischer Apartheid, ist die Ursache globaler Polarisierung,
Diskriminierung und Ausbeutung.
Was also wie eine Koinzidenz in einem zu weitläufigen Kulturbegriff aussah,
nämlich die Verbindung von Kultur und Verbrechen, erweist seine Gültigkeit
vor dem Hintergrund der Produktionsweisen des globalen Kapitalismus. "Die
postmoderne multikulturalistische Identitätspolitik", schreibt Zizek,
"diese immer weiter wachsende Blüte von Gruppen und Untergruppen
in ihren hybriden und flüssigen Identitäten, eine jede auf ihrem
Recht, ihr spezifisches Leben führen zu dürfen und/oder ihre spezifische
Kultur auszuleben beharrend - eine solche unablässige Diversifikation
ist nur denkbar und möglich vor dem Hintergrund kapitalistischer Globalisierung.
"
Die Indifferenz des kulturellen Relativismus verschleiert diesen grundlegenden
Unterschied: die massiven globalen Machtgefälle in Bezug auf Selbstbestimmung,
Handlungsfähigkeit und die Sicherung der Grundbedürfnisse. Der Begriff
der Kultur. verwandelt die Hierarchien globaler Privilegien in eine horizontale
Anordnung einander indifferenter Kulturen. Er ersetzt den Begriff der Klasse
Ð nicht aber ihre Herrschaft.
Negativer Universalismus
Die Theoretikerinnen der Domestizierung handeln demgegenüber nicht von
Kultur sondern vom Verbrechen, das in ihrem Namen zur Gewohnheit wird. Es
sind jedoch gerade die mit Gewalt partikularisierten, diejenigen, die im Ausnahmezustand
leben, die universalistisch argumentieren. Sie appellieren an die Menschenrechte,
an Politik und Öffentlichkeit, an Ethik und Gerechtigkeit. Aber niemand
hört zu. Diejenigen, an die sie appellieren, haben es vorgezogen, sich
in kulturverzückte Stämme zu verwandeln, die im Privaten schwelgen.
Die als kulturelle Differenz ausgedrückte globale Ungleichheit wird positiv
gefasst und als Fetisch verdinglicht . Sie mutiert zur ahistorischen Essenz
oder zur exotisch pikanten Ware. Der Universalismus hingegen, auf dem die
Partikularisierten bestehen, wurde von seinen Verwaltern schon längst
kulturell relativiert: als eurozentrische Ideologie des Westens. Nur, wenn
es gerade die Interessen westlicher Länder oder Konzerne betrifft, wird
im Namen universalistischer Werte wie der Menschenrechte gehandelt. Der Universalismus
des Westens ist ein ebenso kulturalisierter, wie selektiver Universalismus.
Daran gibt es nicht viel zu bestreiten. Wohl aber aus der Konsequenz dieser
Feststellung: der Indifferenz.
Soll dagegen der Begriff der Differenz gerettet werden, muss er im negativen
belassen werden, in seiner politischen Form als Ungleichheit. Diese bezieht
sich auf die einzigen Universalien, die heutzutage weltweite Gültigkeit
besitzen: auf Unterdrückung, Ausbeutung, auf Diskriminierung und Unterwerfung,
mit einem Wort, auf die Positioniertheit im globalen Machtgefälle und
auf die Differenzen die sich im Bezug auf den Zugang zu Ressourcen wie Bildung,
Arbeit, Gesundheit, Handlungsfreiheit und Selbstbestimmung ergeben. Ein universalistischer
Diskurs, der sich auf diese Unterschiede bezieht, ist somit ein negativer
Universalismus, der sich nicht auf das relativierende Nebeneinander verschiedener
Kulturen beschränkt. Dieser negative Universalismus ist selbst eine historische
Kategorie. Er basiert nicht auf metaphysischen Naturgesetzen oder kulturellen
Analogien, sondern geht von der Tatsache aus, dass die Produktionsweisen des
globalen wKapitalismus derzeit fast jeden Menschen direkt betreffen: die einen
als Kultur, die anderen als Verbrechen. Wenn der globale Kapitalismus also
die einzige derzeit existierende Universalie darstellt, bleibt nur eine Form,
die ihm innewohnende Dichotomie von Kultur und Verbrechen zu überwinden
- ihn zu negieren und sich auf politischen Widerstand zu einigen.