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16 / 11 / 02 – 15 / 12 / 02
Exhibition / Films / Talks / Performance

Ruta Remake (2002)
Nomeda und Gediminas Urbonas (LT)

“ruta” spielen... und hören
Otto Kränzler

"Women's Interviews" (Excerpts)
"Ruta Remake" Main Page

English








Die beiden Sensoren des Theramidi produzieren zwei MIDI-Signale. Erstens Note-On-Events in der Vertikalen und zweitens Volume-Werte (MIDI-Controller Nr.7) in der Horizontalen. Da Lichteinfallswinkel und Empfindlichkeit der Sensoren analoge Größen sind, tendieren diese zu fluktuierenden und etwas instabilen Werten. Ein Script von Steven Greenwood für Macromedia Director, kalibriert die Note-On-Events in 13 Halboktav-Schritten, diese korrespondieren mit 13 Layern. Die Volume-Werte werden so kalibriert, daß sie den Segmenten in den Webmustern entsprechen. Das Theramidi erlaubt mit etwas Übung bei aufmerksamer Wahrnehmung des Feedback, eine verläßliche und reproduzierbare Spielweise.

Da es sich beim Webmuster um die Darstellung einer Pflanze handelt, sind die 63 Klangmischungen so gewählt und angeordnet, daß sich aus einer Bewegung entlang der Pflanze ein auditiv wahrnehmbarer Wachstumsprozess ergibt. Durch dichte Überlagerung von Klängen aus je einer von 13 Kategorien wird der semantische Gehalt verdrängt bzw. aufgehoben um so die phonetischen und onomatopoetischen Elemente zu verdichten. Das ist gut nachzuempfinden, wenn man sich über die "leeren" Stellen des Musters bewegt, die der reinen Hintergrundtextur entsprechen.

Die unterste Schicht besteht aus gehauchter, konsonantisch betonter Sprache mit starken Atemanteilen. Layer 2 bis 5 reichen von poetischer Sprache über Rezitation bis zu aufgeregten hellen Sprachklängen und bis zum Schreien ohne erkennbare Verbalisation. Ab Layer 6 kommt Musik hinzu. Die größte Vermischung wird im Layer 10 erreicht, wo auch erhebliche Hallanteile in den Originalklängen vorhanden sind. Die letzten Schichten sind nur noch Musik, zumeist von weiblichen Stimmen gesungene Lieder mit unterschiedlichen Begleitinstrumenten. Die letzte, 13. Schicht erreicht, nach der Reizüberflutung der mittleren Layer, wieder eine ähnliche Zartheit wie die erste. Hierin kommt etwas in der Art einer Blüte, oder vieler kleiner, zum Vorschein.

Das Thema "Wachstum" ist nicht vorwiegend inhaltlich-assoziativ behandelt, sondern umgesetzt durch Verdichtung und Auflockerung der Klang-Gewebe. In “ruta” klingen französisch ROUTE (= Weg), englisch ROOT (= Wurzel) an, aber auch deutsch RUTE: ein weiterer Hinweis auf den Vorgang des Flechtens oder Webens. Diese begrifflichen Assoziationen werden besonders innerhalb der Technik klanglichen Verwebens programmatisch. Im Unterschied zu den Mixes von John Cage (Fontana Mix, Rozart Mix), wird dabei der Algorithmus im spielerischen Bereich nicht mehr benutzt. Er hat in der Klangkomposition seinen Dienst erfüllt. Obwohl verschiedene klangliche Parallelen zu den aleatorischen Strömungen in der zeitgenössischen Musik bestehen, z.B. im Umgang mit dem Parameter der “Dichte”, ist die Verwandschaft zu Charles Ives Simultanstücken vielleicht größer. Und klingen nicht schon in Gustav Mahlers Einschüben von Fernorchestern, Kuhglockengeläute und anderen Klangstimmungen gewisse Vorahnungen des Mix, der Tonmischung an, welche ältere Konzepte (Orchestermixturen, Tongemälde, Tondichtungen) weit hinter sich lassen?

Der wesentliche Unterschied zu reproduzierten Musik-Stücken ist jedoch,  daß hier der Besucher selbst versuchen kann, die Pflanze wachsen zu lassen durch Bespielen der interaktiven Anordnung: Als Erfahrung, Übung, Mitteilung? Als Frage, Versuch, Spiel? Das ist nun seine Entscheidung. Die Sensoren sind kaum schwerer zu beherrschen als etwa eine Computermaus, vermitteln aber ein deutliches Gefühl von manuell-plastischer Formbarkeit.

Man gestikuliert eine Klangskulptur in die Luft und bespielt so das identische Medium, welches auch den Klang zum Ohr bringt. Kein Schritt zum vielbeschworenen direkten Denken von Musik (Gehirnwellen sollen Computermusik generieren). Sondern: Musik machen  - mit beiden Händen. Nicht: ES spielt,  ICH spiele. Sicher: der gesamte Klang ist bereits niedergelegt in der bespielten Fläche des Webmusters. Kein Klang wird als solcher durch das Spiel selbst generiert. Der Ausgangspunkt ist ein Sound-Pool, gut gefüllt mit historischem und ethnischem Material. Das Medium der Klangkomposition ist nicht etwa die elektronische Synthese, sondern äußerste Verdichtung durch Mischung unter Einbeziehung der Raumdimensionen. Die Klangskulptur im stationären Sinn ist also fertig, wenn der Spieler erscheint. Aber Klang in seiner Konkretion benutzt zur Entfaltung stets die Zeit - und hier genießt der Spieler die völlige Freiheit, wie - das heißt in welcher Folge, mit welchem Wechsel der Orte und der Bewegungen, mit welcher Geste und wie geschwind oder betulich - er die Flächen und Ecken, Linien und Kanten von "RUTA" erkundet.

Man muß diese Klangdichte hören lernen, begreifen, was vermittelndes Fluidum ist, worin sich also etwas mitteilt und was dagegen marginal wird, für die Aussage eher gleichgültig. Sprachlicher Inhalt sowie musikalische Rhythmen und Kadenzen verschwinden hinter "Format", Anordnung, Zusammensetzung. Dichte wird wichtig, Tonhöhe nebensächlich, Melos  rudimentär. Text geht auf in Textur. Sprache reduziert sich auf zufällig durchs Dickicht dringende Wortfetzen, Sprachsinn auf deren zufällige Assoziationen. Gegenläufige musikalische Eindrücke drohen sich gegenseitig aufzuheben: ein scheinbares Nullsummenspiel ganz in Entsprechung zu den neuen Massenmedien, welche nicht mehr Botschaften für die Massen, sondern die Botschaften der Massen transportieren. Der Empfänger solcher Botschaften wählt mehr oder weniger gekonnt und gezielt aus oder gibt sich mit dem zufrieden, was ihn zufällig erreicht, blendet aus, was zu eindringlich daherkommt und mißtraut jeder Wohltat. Ganz weit weg und unbeteiligt fühlt er sich zeitweise ganz wohl, kann aber das aktive Mitmischen nicht völlig lassen. Im Glücksfall liefert er virtuos edle Päckchen an die Seinen, die eine ständig fluktuierende, changierende, teils anonyme teils pseudonyme Teilmasse bilden. Andere gehen nur zuhörend vorbei ohne besondere Intentionen, streifen quasi mit dem Ohr darüberhin. Ein Publikum, wie man es sich wünscht? Die Spieler sind unser bestes Publikum!

Der Tonkünstler Otto Kränzler nimmt an dem Projekt ”ruta” teil, indem er das ”ruta”-Muster interpretiert und es in eine Klangordnung übersetzt. Kränzler hat ein konzeptuelles und technologisches System entwickelt, um mit Hilfe der Software “Ableton Live” Samples menschlicher Stimmen zu filigranen Klangmischungen zu verweben, die in der “ruta”-Installation über Macromedia Director und Theramidi-Lichtsensoren live kontrolliert werden. Theramidi ist eine optisch angesteuerte und mit heutigen Mitteln von Tom Scarff via Midi-Schnittstelle realisierte Nachempfindung des nach seinem Erfinder Leon Theremin benannten Ätherwelleninstrumentes aus dem Jahre 1920.

 


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