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16 / 11 / 02 – 15 / 12 / 02
Exhibition / Films / Talks / Performance

Eva Hohenberger (D)
Auszug aus: Die Wirklichkeit des Films.
Dokumentarfilm. Ethnographischer Film. Jean Rouch.

Hildesheim: Olms (1988)

siehe auch: Vortrag von Eva Hohenberger, zu Les Maitres Fous von Jean Rouch (1954)



Es ist fast unmöglich, auch nur annähernd vollständig über Rouchs ‘Werk’ zu sprechen, da dieses nie abgeschlossen, sondern eher einständiges ‘work in progress’ darstellt. Es liegen zwar einige Filmographien vor, deren weitreichendste, die in Predal 1982, bis 1981 inklusive reicht, jedoch weichen fast alle voneinander ab, sowohl was die Anzahl als auch die Datierung der Filme betrifft. Die Ursache wird nicht zuletzt in Rouchs Arbeitsweise zu suchen sein. Oft lässt er Filmmaterial jahrelang ungeschnitten liegen, schneidet Filme um oder kompiliert. Sein Produzent Braunberger beschreibt es so:

Er vergißt ganze wichtige Szenen einzufügen und manchmal verliert er den Faden. Es muß ein. ‘Oeuvre Rouch’ in den Labors geben, das niemals jemand sehen wird, ein Oeuvre, das nur die Entwickleraugen kennen.
(Braunberger in: Predal 1982, 159)

Immerhin reichen die vorliegenden Filmographien für eine grobe Obersicht und Klassifizierung aus. Danach hat Rouch schätzungsweise 120 Filme fertiggestellt, davon die größte Anzahl im heutigen Staat Niger, vor allem bei den Songhay am Fluß Niger. Er lernte diese Ethnie schon während seines ersten Afrika-Aufenthaltes Anfang der 40er Jahre kennen und kehrte zu ihnen nach dem Krieg, nun als ausgebildeter Ethnologe zurück. Die Songhay wurden sozusagen ‘seine’ Ethnie, 1960 erschien seine Dissertation über ihre Religion, nachdem er bereits mehrere Aufsätze über sie veröffentlicht hatte. Die Mehrzahl seiner Filme über die Songhay befassen sich mit bestimmten Ritualen, vorwiegend Besessenheitstänzen, die mit der Bitte um Regen und dem Donnergott Dongo verbunden sind. Daneben filmte er Initiations-, Beschneidungs- und Totenrituale, Jagden sowie einige Studien über Musik und Musikinstrumente. Bezeichnenderweise sind diese Filme über Themenbereiche der klassischen Ethnologie, obwohl auch sie keineswegs subjektloser Beobachtung entsprechen, unter den Nicht-Ethnologen am unbekanntesten geblieben, wahrscheinlich weil sie im begrenzten Rahmen ethnologischer Öffentlichkeit zirkulieren. Eine Ausnahme ist vielleicht der Film Babatou ou les trois conseils (1976), der eine Verbindung eines historischen Ereignisses (eines Krieges der Djerma Songhay in Gurunsi, d.i. im Nordwesten des heutigen Ghana, um 1850) mit einer Geschichte aus dem Sagenkreis von 1001 Nacht darstellt.

Die zweitgrößte Gruppe von Filmen befaßt sich mit den Dogon im heutigen Mali, einer inzwischen gut ‘durchethnologisierten’ Gesellschaft, die Rouch von seinem Lehrer Griaule übernommen hat, in dessen Auftrag er 1951 seinen ersten Film dort drehte, Cimetière dans la falaise. Erst 1964 kehrte er wieder zu den Dogon zurück und drehte eine Studie über verschiedene Trommeln, Batteries Dogon, bevor er ein Jahr später in Zusammenarbeit mit Germaine Dieterlen, einer ehemaligen Mitarbeiterin Griaules, mit seiner für die Ethnologie sicherlich bedeutsamsten Filmarbeit begann. Alle 60 Jahre begehen die Dogon das Fest ‘Sigui’, das sieben Jahre dauert und dabei von Dorf zu Dorf zieht, wobei jedes Dorf seinen Beitrag leistet. Das Fest erinnert an und belebt den Schöpfungsmythos der Dogon, der um die Erfindung des Todes und die Gabe der Sprache an die Menschen kreist. Rouch drehte insgesamt acht Jahre; da der Schluß des Sigui 1973 wegen der herrschenden Dürre auf Anordnung der Regierung von Mali nicht gefilmt werden durfte, spielten die Dogon die Abschlußfeierlichkeiten ein Jahr später für den Film nach. 1981 führte Rouch eine fast zehnstündige Fassung im Musée de l’Homme in Paris vor, schnitt jedoch auch eine nur halbstündige Fassung mit dem Titel Les cérémonies soixantennaires du sigui. Während eines Aufenthalts starb ein Informant Griaules, der 120 Jahre alt geworden war und drei Siguis miterlebt hatte. Rouch filmte die mehrtägigen Beerdigungsfeierlichkeiten, befragte den Sohn des Toten und fügte in den Film Aufnahmen des Verstorbenen ein. Diese filmische Hommage an den Verstorbenen stellte für einen Kritiker (Lardeau 1979) Rouchs Beitrag zu dem stattfindenden Ritual dar (Funerailles à Bongo. Le vieil Anai, 1972). Für einen anderen Informanten Griaules wurde 1974 das ‘dama’ abgehalten, eine Totenehrung, die drei Jahre nach dem Tod stattfindet, für Rouch Anlaß zu seinem Film Dama d’Ambara (1974), in den er ebenfalls alte Aufnahmen einfügte und dessen Kommentar auch Zitate von Griaule über den Mythos der Dogon und eigene Erinnerungen aus den 30er Jahren enthält.

Eine dritte Gruppe von Filmen Rouchs kann man unter dem Aspekt der Kulturbegegnung oder Akkulturation betrachten, Rouch selber nennt sie seine ‘urbanen soziologischen Filme’. In den 50er Jahren führte Rouch Untersuchungen über die Migration vom Nigergebiet in die angrenzenden Staaten (Ghana, Elfenbeinküste) bis in die Hauptstädte Accra und Abidjan an der Küste durch. Das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen innerhalb Afrikas, aber auch die Auseinandersetzung mit der weißen Kultur spielen in diesen, Rouchs bekanntesten Filmen, eine zentrale Rolle. Gleich der erste Film, Les Maitres Fous, 1954 in Accra gedreht, brachte Rouch zwar beim Filmvestival in Venedig einen Preis ein, blieb ansonsten jedoch unter Weißen wie Schwarzen heftig umstritten. Er zeigt eine Zeremonie der Hauka, eines religiösen Geheimbundes, der sich in den 20er Jahren in der Nigerregion entwikkelt und mit den Arbeitsemigranten schließlich bis an die Küste Ghanas ausgebreitet hatte. Die Hauka selbst hatten Rouch gebeten, eine ihrer Zusammenkünfte zu filmen. Hauka heißen auch die neuen Götter, die in Form von Beamten der Kolonialverwaltung auftreten und von den Menschen Besitz ergriffen haben. Bei ihren Treffen werden die Mitglieder des gleichnamigen Bundes von diesen Göttern besessen und agieren in Trance ihre koloniale Unterdrückung aus. Die dabei vollzogenen Rituale wirken grausam: zuerst wird ein Huhn geopfert, dann einem lebenden Hund die Kehle durchgebissen. Die Menschen haben Schaum vor dem Mund und streiten sich um die besten Stücke des getöteten Tieres. Der Film wurde in nur wenigen Stunden gedreht, in die fertige Fassung schnitt Rouch zusätzlich Aufnahmen von einer Militärparade, den Vorbildern der Hauka für ihre Gottheiten ein. Noch in einem Fernsehinterview 1984 wies Rouch auf die negativen Reaktionen hin: die Afrikaner waren aufgebracht Über das Bild der ‘schwarzen Wilden’, die Regierung von Ghana verbot den Film, französische Psychoanalytiker, unter ihnen Lacan, wußten mit ihm nichts anzufangen, selbst Griaule riet zur Vernichtung. Nur Bazin, so Rouch in dem Interview, habe ihn sofort verstanden und damit auch die wahre Ursache der Ablehnung durch die Europäer erkannt. Bazin hatte in seiner 1957 erschienenen Kritik geschrieben:

Chris Marker und Alain Resnais wollten uns zeigen, wie die Skulpturen der Schwarzen sterben, der Film von Rouch trägt die logische und positive Ergänzung dazu bei, indem er uns zeigt, wie auch die Götter sterben, denn wenn es etwas noch Schlimmeres gibt als den Tod der Zivilisation, dann ist es der Reflex, den sie uns im Delirium ihrer Agonie von der unseren zurückwirft.
(Bazin 1983, 186)

Der Einfluß der weißen, diesmal besonders der Kino-Kultur spielt eine große Rolle in dem Film Moi, un Noir (1957), auf den ich noch genauer eingehen werde. Wie Moi, un Noir spielt auch La Pyramide Humaine (gedreht 1959-60, fertiggestellt 1961) in Abidjan. Er behandelt Rassenprobleme in einem gemischtrassigen und vor allem gemischtgeschlechtlichen Gymnasium. Die Geschichte entwickelte Rouch mit den Schülern von Drehtag zu Drehtag weiter; der Film enthält Szenen dieser Arbeit, etwa Rouch und die Schüler am Schneidetisch bei der Begutachtung des bisher Gedrehten. Auf ähnliche Weise entstanden Jaguar (Herstellungsdauer von 1954 bis 67, erstmals gezeigt 1971) und als Fortsetzung Petit à Petit (gedreht 1969; 1971 wurde eine Fassung von 105 Minuten gezeigt, 1985 kam eine Fassung von viereinhalb Stunden erstmals in die Kinos und als Mehrteiler ins französische Fernsehen). Jaguar schildert die Abenteuer einiger Männer vom Niger in Ghana, Petit à Petit zeigt die gleiche Gruppe, die nun ein Unternehmen hat und, um sich über den Bau von Hochhäusern zu informieren, einen der Ihren nach Paris schickt, wo er ‘verkehrte Ethnologie’ betreibt (etwa den typischen Pariser ermittelt, der klein, häßlich und dauernd krank ist) und so abenteuerliche Briefe in die Heimat schreibt, daß man ihm einen Freund hinterherschickt, um zu sehen, ob er nicht verrückt geworden sei. Nach allerlei Abenteuern in der Fremde und mit Fremden in der Heimat geben die Freunde die Firma schließlich auf und kehren auf’s Land an den Niger zurück.

Dem Thema Kulturbegegnung angliedern könnte man noch vier Filme Rouchs, die sich mit Autos beschäftigen, auch wenn zwei davon Werbefilme sind, einer für Peugeot und einer für VW. Aber sie zeigen ebenso wie Cocorico, Monsieur Poulet (1974) die Einschreibung afrikanischer Kultur auf den metallenen Körper dieser westlichen Güter, die, bei uns Symbole für Wohlstand und Glück, dort dieser Funktion schnell entledigt werden. In Cocorico wird ein 2 CV mehrmals auseinandergenommen und über den Niger gebracht. Einmal ruiniert, so ein Kritiker (LePeron 1977), leben Autos in Afrika wesentlich länger.

Filme über die eigene Ethnie sind in Rouchs Werk die große Ausnahme geblieben, auch wenn die 1960 auf Anregung des Soziologen Edgar Morin entstandene Chronique d’un été eine soziologische Untersuchung über den Bewußtseinszustand Pariser Linker zu dem Film des cinéma vérité wurde. Die Kamera dient nicht nur als Katalysator bei der Selbstdarstellung der Beteiligten, sondern ist ihre wahre raison d’être - ohne sie wären die Leute nicht zusammengekommen und kein Film entstanden. Die Zusammenarbeit mit Morin war nicht problemlos, was vor allem den Schnitt der rund 21 Stunden gedrehten Materials betraf und Rouch zog es nach dieser Erfahrung vor, wieder allein und in Afrika zu arbeiten . So ist Chronique insgesamt weniger ein Film von Rouch als von Morin: es war weder Rouchs Idee, diesen Film zu machen, noch waren es seine Freunde, die mitspielten, er selbst hatte nicht die gewohnte Kontrolle über Regie und Montage. Für Rouch war an dem Projekt eher die Begegnung mit Michel Brault aus Kanada und die Zusammenarbeit mit der Firma Eclair von Bedeutung. Die ‘psychodramatische’ Komponente war für ihn nur mit Europäern neu und hier immerhin so erfolglos, daß er diese Erfahrung nie wiederholte. In Paris entstand später noch eine Improvisation über ein Mädchen, das von der Schule verwiesen wird und nacheinander drei Männer trifft, die Liebe, Geld und Abenteuer bedeuten. Der Film war ein Versuch, die Technik des ‘direct’ auf eine eindeutig fiktionale Geschichte anzuwenden (La Punition, 1960). Dann filmte Rouch den Auftritt einer Tanzgruppe aus Niger in Paris (Les ballets de Niger, 1961) und steuerte zu zwei Episodenfilmen je einen Beitrag bei, von denen Gare du Nord, 1964, dadurch bekannt wurde, daß er aus lediglich zwei zehnminütigen Sequenzeinstellungen besteht. Im Mai 1968 drehte Rouch zwar in Paris, der Film ist jedoch bis heute nicht geschnitten. Eine eigenständige Gruppe bilden Rouchs Interview-Filme, die er 1973 mit einem Porträt des japanischen Künstlers Taro Okamoto begann. Es folgte 1977 ein Ciné-Portrait von Margaret Mead, für das Rouch, die Kamera auf der Schulter, ihr durch ‘ihr’ Museum folgte und sich mit ihr unterhielt. Für den Ton war der Dokumentarist John Marshall zuständig, der sowohl eine Langzeitstudie bei den Kung in der Kalahari-Wüste gedreht als auch mit Fred Wiseman zusammengearbeitet hat. Dann folgten eine Reihe Porträts mit dem Zusatztitel Hommage à Marcel Hauss, u.a. von Germaine Dieterlen, aber auch von Kollegen wie Raymond Depardon (1983), einem ehemaligen Fotoreporter bei der Zeitschrift ‘Life’ und jetzt selber Filmemacher. Zu diesen Porträts gehört schließlich auch der Film Ciné-Mafia (1980), dessen Titel viel über Rouchs Selbstverständnis verrät. Er entstand in einem belgischen Dorf und zeigt gleich drei ‘Altmeister’ des Dokumentarfilms: Rouch selbst neben Storck und Ivens.


Auszug aus: Eva Hohenberger, Die Wirklichkeit des Films. Dokumentarfilm Ethnographischer Film -Jean Rouch. 1988, Georg Olms Verlag.

Eva Hohenberger, Dr. phil. wiss. Mitarbeiterin am Institut für Medienwissenschaft an der Ruhr Universität Bochum. Schwerpunkt der Arbeit: Theorie und Geschichte des Dokumentarfilms.

Publikationen:
Die Wirklichkeit des Films. Dokumentarfilm. Ethnographischer Film. Jean Rouch. Hildesheim: Olms 1988.

Bilder des Wirklichen. Texte zur Theorie des Dokumentarfilms.
Berlin: Vorwerk 8, 2. Aufl.2000 (Hg.)

 


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