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16 / 11 / 02 – 15 / 12 / 02
Exhibition / Films / Talks / Performance

Coming Attraction
X Characters in Search of an Author
(2002)
Constanze Ruhm (A)

English

Serie von Plakaten: Memory, Character, Script, Ride (2000)

Memory


Script


Movie Ride

Character



Installationsansicht "Future CInema", ZKM (2002)

1. Identitäten: Coming Attractions
Der thematische Rahmen des Projekts beschäftigt sich mit der Frage, welche zeitgenössische und zukünftige Sprache der kinematografische Apparat zu Beginn des 21. Jahrhunderts offeriert, und innerhalb welcher Art von Operating System diese imaginiert und projiziert wird. Das erste, ursprüngliche Bild, das im Betriebssystem der frühen Kinomoderne erscheint, verknüpft die Kamera mit dem Auge, interpretiert Bewegung als Lebensform, und entwickelt die neue Technik des Filmschnitts zu einer Sprache, durch welche die Maschinerie hinter der scheinbar nahtlosen visuellen Erzählung verdeckt werden soll.

Dieser "Körper" des frühen Kinos operiert als Dynamo, der auf Technologien des 19. Jahrhunderts basiert — auf einer Mechanik der Regulatoren und Getriebe, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine Ideologie der Moderne begründet. Diese Mechanik entstand zeitgleich mit der Psychoanalyse, die nach Wegen suchte, die menschliche (weibliche) Psyche zu regulieren. Die daraus hervorgehenden psychoanalytischen Modelle — wie auch die psychischen Zustände, die mit Hilfe dieser Modelle analysiert wurden — entfalteten sich in einem konzeptuellen Raum, der zwischen den Kräften von Anziehung und Abstoßung entstand. Diese Modelle glichen Wunschmaschinen, die gleichzeitig auf einer "abstoßenden" (traumatischen) Vergangenheit, und auf einer namenlosen, mysteriösen Zukunft beruhten, die unbekannte Formen des Begehrens und Aussicht auf libidinöse Erfüllung versprach.

Aus diesem Grund verharrte das psychoanalytische Subjekt zwischen einer Nostalgie für eine Vergangenheit, die es so nicht gegeben hatte, und in Erwartung einer Zukunft, die nie stattfinden würde. Von Beginn an reflektierte die Identität des Kinos der Moderne diese obsessiven Ökonomien des Begehrens, die sich häufig der Terminologien des mechanischen Zeitalters bedienten.

Das Projekt Coming Attraction versucht, zeitgenössische Interpretation und Fortschreibung einer Theorie und Praxis des modernistischen Kino-Apparats zu entwerfen. Es entwickelt eine besondere filmische Form, die sich in der komplexen Identität eines Kinos ausdrückt, das sich von der "Apparatur" zur "Operation" verschiebt. So verwandelt "Kino" sich in ein "Operating System" , das auf zeitgenössischen Programmen, Codes und auf neuen Formen des Scriptings basiert. Es beschäftigt sich mit dem kinematografischen Spektakel der Vergangenheit und jenen Erzählungen, die entweder von einer subjektiven Autoren-Perspektive oder vom institutionellen Hollywoodkino geprägt waren. Eine mögliche Zukunft dieser Formen des Kinos entwickeln sich aus den unauslöschlichen Spuren und Eindrücken des filmischen Apparates, die sich dem Gedächtnis und der Erinnerung der Zuschauer (1) als Zeichen und Marker eingeprägt haben. Diese zeichenhaften Konturen verwandeln sich in Vorlagen, die ein Eigenleben entwickeln, um neue und zukünftige Stimmen zu suggerieren, die aus Formen radikalisierter Scripts entstehen. So werden andere Narrationen über Subjekte und Identifikationsmechanismen in Bewegung gesetzt.

In den vergangenen Jahrzehnten zeigte sich innerhalb einer ganzen Reihe unterschiedlicher künstlerischer Strategien der Wunsch, die Geschichte der Wechselbezüge zwischen Moderne und Kino mittels einer "Nostalgie" für das Kino zu neutralisieren. Diese Praktiken konzentrierten sich vor allem auf eine gefahrlose Beschäftigung mit den konventionellen Gegenständen der Kinogeschichte, und unter weit gehender Vernachlässigung akademischer Diskurse zu Fragen des Kräftespiels und der Konflikte, die sich innerhalb des Verhältnisses von Betrachter und Leinwand am Werk zeigten. Eine unkritische Sehnsucht nach der Vergangenheit versuchte, eine Form von Re-Institutionalisierung des Kinos als Machtinstrument innerhalb des Kunstkontextes zu betreiben. Der Ausgangspunkt zahlreicher Arbeiten lokalisierte sich daher häufig an einem "Nullpunkt" kinematografischer Produktionsformen, wo etablierte Diskurse zwischen der Kinomoderne und Praktiken der Avantgarde getrost vernachlässigt werden konnten: die "Coming Attractions" eines Jahrhunderts, das schon damals der Vergangenheit des Kinos angehörte.

Dieses Projekt versucht, ein neues Terrain, neue Grundlagen für zukünftige "Coming Attractions" zu schaffen, indem es sich mit einer Reihe fragmentarischer Momente aus "Scripts" (2) unterschiedlichster Herkunft beschäftigt, die dem Kino, dem Internet und anderen Inszenierungsapparaturen angehören. Innerhalb der spezifischen Bedingungen dieses Projekts verbindet sich der mechanische Apparat mit jenem des Texts, genauer gesagt: mit unterschiedlichen Scriptformen. Diese Verbindung verweist auf eine Verschiebung weg vom Script, auf dem ein Film basiert, und das als homogene erzählerische Einheit aufgefasst wird, hin zu einer Form von Interpretation als Textpraxis, die sich als Teil eines Feldes zahlreicher anderer Texte, Schriften, Scripts und Sub-Scripts darstellt, und die außerhalb der spezifischen Bedingungen eines einzigen Drehbuchs angeordnet sind.

Mittels einer Strategie des Wieder-Lesens, Wieder-Schreibens und Wiederaufnehmens beschäftigt sich Coming Attraction mit einem Prozess der Bedeutungsproduktion innerhalb der Identität des kinematografischen Apparats, der mit zeitgenössischen Medien eine Verbindung eingeht.



Installationsgrundriss


2. Räumliche Konfiguration

Das Wesen der neuen räumlichen Verhältnisse und Anordnungen in Coming Attraction entwickelt sich aus dem alten Modell der "Identität" des Kinos: aus dem Projektionsapparat.

Der architektonische Raum definiert einen in der Kinomechanik verankerten Wahrnehmungskosmos, in dem verschiedene Scripts zusammenlaufen, und dessen Grundriss jenen Komponenten des Kinos entliehen wird, die im Allgemeinen außerhalb der Black Box des Vorführungsraumes verborgen liegen. Die Spulen des Projektors, die Synchronisation von Licht, Blenden und Führungen werden durch räumliche Analyse in Modelle von Kommunikationsmustern verwandelt. Diese Spulen verkörpern mögliche Formen der Vergangenheit wie auch der Zukunft, und eröffnen als mechanische Vorlagen, Räume für "Coming Attractions" , in denen Worte, Texte, Dialoge, Handlungen kanalisiert und prozessiert werden.

Coming Attraction ist auch ein Entwurf für einen zeitgenössischen Projektionsraum, der die Apparatur nicht verbirgt, sondern eine Kombination aus Kino und Netz in Form eines movie rides (3) herstellt, der den Begriff des Autorenkinos jenem des Hollywoodfilms gegenüberstellt. Die Maschinerie des Projektors wird zur Grundlage eines Prozesses, innerhalb dessen ein mechanisches Modell in eine Informationsarchitektur und in ein Zeichensystem verwandelt wird. Die Zone, die durch die Überschneidung der Filmspulen entsteht, verbindet den Raum der autonomen, in sich abgeschlossenen Produktion mit einem offen bleibenden Text. Aus jener Zone, die sowohl das Auge des Apparates wie auch des Betrachters umreisst, geht die Vorstellung subjektiver Wahrnehmung hervor. Diese räumliche Konfiguration bezieht sich auf das frühe "kinematografische Auge" (das VertovÌsche Kino-Auge) als Identität und Kommunikationsmodell, das sich in der subjektiven Perspektive der Kamera verkörpert, und das Fragen von "Vision" und "Perspektive" als zentral für Identitätssproduktion auffasst.

Dieses "Kino-Auge" ließ sich mit dem demografischen Auge eines Marktes kurzschließen, der auch das Kino als "Marke" verstand. So wurde das kinematografische Spektakel der Vergangenheit von den Marktstrategien und der Identitätsproduktion Hollywoods abgelöst.

Jedes Studio zeigte hinsichtlich des Produktionsdesigns und der Auswahl bestimmter Themen, Stile und Schauspieler eine spezifische Markt- und Markenidentität" eine Ökonomie, die in ihrer Beschaffenheit bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt die Strukturen des Internets gewissermaßen vorwegnahm.

Der architektonische Raum von Coming Attraction macht diese Strukturen, Links und Überschneidungen als etwas sichtbar, das grundlegend für ein Verständnis zeitgenössischer Formen des Kinos erscheint: als Verkörperung der Ökonomien und Techniken der Moderne.

In diesem Raum gehen Modelle der Kybernetik und der Projektionsapparaturen des 19. Jahrhunderts mit heutigen Kommunikationsnetzwerken eine Verbindung ein, und werden durch Scripting- und Mapping-Techniken des 21. Jahrhunderts synthetisiert: Als räumliche Analyse der Verhältnisse und der vielfältigen Formen des Begehrens, die innerhalb und durch die Massenmedien operieren. Coming Attraction beschäftigt sich daher auch mit Formen der Übersetzung zwischen Kinomoderne, Video, Computer und Internet.

Der architektonische Raum erzeugt und überbrückt gleichzeitig den Raum zwischen den Spulen eines Projektors: ein Raum, der in der Bewegung des Filmstreifens und seinen Windungen und Drehungen durch die mechanischen Führungen entsteht. Gleichzeitig werden zeitgenössische (Ver)-Formungen visueller und textueller Informationen und Codes untersucht, die durch die fiberoptischen Kabel der großen Netzwerke passieren. Der Raum von Coming Attraction ist ein "film-loses" Set, das die Vergangenheit in Bezug zur Gegenwart setzt. Die Projektormechanik und die Projektion selbst werden als System von Körper und Psyche aufgefasst, als eine Übersetzungsmaschine zwischen analogen und digitalen Welten suspendiert, eine fragile Konstruktion von Spannungen und Belastungen, durch welche die Vergangenheit mit möglichen zukünftigen Szenarios verbunden wird.





v. l. n. r. im Uhrzeigersinn: Jane Fonda, Monica Vitti, Anna Karina, Bibi Andersson, Faye Dunaway, Sean Young


3. X Characters in Search of an Author - Produktionsmodell

Coming Attraction stellt die Umgebung für die Produktion von X Characters in Search of an Author dar, die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken wird. Als eine Form künstlerischer Praxis zeigt Coming Attraction das Kino als ein System, das auf Grundlage seiner Subjekte operiert — nicht nur als Projektionsfläche, die "Leben" vergröert. Das Kino wird hier als synthetische Maschine verstanden, die Codes formuliert, um sie wieder zu brechen.

Kino besitzt die Fähigkeit, verschiedenste Formen des Scriptings zu entwickeln; und es gründet auf einer Assemblage unterschiedlicher Arbeits- und Produktionsformen, ästhetischer Praxen und Technologien sowie architektonischer, räumlicher und zeitlicher Paradigmen — all dies wird innerhalb einer fragilen Ökonomie der Sprachen von Montage und Performance formuliert. Während die Identifikationsmuster des Kinos die Symptome freilegen, die im Blick- und Bildregime verankert sind, zeigt sich seine Identität aber auch als Konfiguration, die auf einer Geschichte von "Programmier" sprachen beruht. Diese entstehen aus einer Reihe von Source Codes als Grundlagen für das Produktionsmodell von Coming Attraction und X Characters….

Dieses Produktionsmodell für verbindet die Syntax des Mainstreamkinos mit den Begriffen Script, Character und Movie Ride. Es disassoziiert, rekodiert und rekonstruiert die grundlegenden Elemente, die der Identität eines Films angehören, um so "Kino" innerhalb einer Ökonomie zeitgenössischer medialer Logiken zu re-zirkulieren. Das Hauptgewicht des Projekts liegt auf weiblichen Filmfiguren, die sich in einem Zustand der Transformation befinden — synthetische Agentinnen in Momenten des Übergangs. Es findet eine Verlagerung aus dem Bereich des Visuellen auf Programm(ier)sprachen und Techniken des Scriptings statt: nicht Mechanik, sondern sich verwandelnde Identitäten; nicht die Festschreibung eines Kanons oder einer Nostalgie für "Neue Medien" und „Kino“, sondern eine fortgesetzte Entdeckung von und Begehren nach neuen Scripts, die ursprünglich in diese Technologien eingebettet waren.


Installationsansicht (Detail)

Der Navigationsraum von Coming Attraction ist ein computerbasiertes, dreidimensionales Storyboarding-Device, das sich parallel zur Realisierung eines performativen Raumes entwickelt, der selbst wieder auf das Navigationsscript zurückwirkt.


Website: Navigationssystem -


Die Kontinuität des Scripts wird durch eine Reihe von Bewegungen hergestellt, die sowohl physischer wie auch emotionaler Natur sind, und orientiert sich entlang der Prinzipien, auf denen ein "movie ride" beruht. Diese Prinzipien werden auf Navigationsraum und Navigator übertragen. Eine neue Variante des "movie rides", deren Fluss die Form und Bewegung eines existierenden filmischen Kamerapfades wiederholt, wird im virtuellen Raum als Orientierungslinie sichtbar. Diese Navigationskurve führt durch filmlose Sets und durch Räume, die von Charakteren mehr geprägt werden als von Geschichten.

Diese Räume von X Characters in Search of an Author sind variable und performative Orte zwischen Kino und Neuen Medien. Sie werden von einer "Gang" ikonischer weiblicher Filmcharaktere bewohnt — Reisende in einem Universum veränderlicher Identitäten, die aus verschiedenen Filmscripts vom Autoren — über modernistisches Kino bis zu postmodernen kinematografischen Formen hervorgehen. Diese Figuren stellen Ikonen und Signifikanten dar, die neue und andere Dialogformen in Gang setzen werden. Die Auslassungen der ursprünglichen Scripts werden in X Characters… zu Anlässen und Stellen, an denen sich potenziell neue Narrationen eröffnen.

Der Plot von X Characters… gehört nicht dem Bereich der Erzählung an, sondern beschäftigt sich mit der Entwicklung der Charaktere. Anstatt eine Geschichte "über" die Erfahrungen einer Figur darzustellen, versucht X Characters…, die Entwicklung dieses Charakters und seiner „psychologischen Gesten“ im Rahmen einer kontinuierlichen Produktion zur Erzählung selbst zu machen.




Chatroom/Ausschnitte aus dem 1. Chat, Februar 2002

4. Produktion

X Characters in Search of an Author entlässt eine Anzahl weiblicher Filmcharaktere (4) aus ihrer "natürlichen" Umgebung der ursprünglichen Scripts. Jeder Figur ist innerhalb dieses Projekts ein Charakterprofil zugeordnet, das über verschiedene, aufeinanderfolgende Phasen entwickelt wird — zuerst im Rahmen eines performativen Prozesses, dann als Script, und schließlich in einem Realisierungsprozess als noch zu entwerfende Form. In der ersten Phase werden die Charaktere durch Darstellerinnen/Agentinnen im Rahmen von performance-orientierten Sessions und Formaten re-konfiguriert.

Die Darstellerinnen — eingeladene Teilnehmerinnen — kommen aus unterschiedlichen Bereichen kultureller Produktion. Ihre Aufgabe ist es, die ursprünglichen Charakterprofile neu zu entwickeln und zu adaptieren, indem sie im Zwischenraum ihrer eigenen Fantasien und dem Begehren der fiktiven Figuren operieren. Jede der Teilnehmerinnen stellt eine Figur dar, die Treffen finden auf virtuellen, medialen "Bühnen" und innerhalb von improvisatorischen Performance-Workshops statt.

Ein Hauptgewicht liegt auf Improvisation, Live-Interaktion und auf den unterschiedlichen Charakeristiken verschiedener medialer Umgebungen. Es gibt keinen Autor/keine Autorin, sondern bloß Filmfiguren, von denen jede ihrer eigenen Logik folgt. Innerhalb der Performances in wechselnden Umgebungen (realen und virtuellen) werden eine Reihe möglicher Situation entwickelt und dokumentiert — Material, das zu neuen Dialogen und Scripts umgearbeitet wird. Diese neuen Scripts berichten in einer zweiten Bewegung von den Verwandlungen der Charaktere und der Entwicklung der Story, um schließlich in einer dritten Phase als theatralische/filmische Form realisiert zu werden. Der Einsatz medialer Plattformen (von digitalen Chatrooms über analoge Radioprogramme bis zur Wirklichkeit der Performance-Workshops) suggeriert, dass hier unterschiedliche Gemeinschaften und Interessen am Werk sind. Das Projekt befasst sich mit Identitäts-Interaktion, und mit Gruppen, die neue Diskussionsformate innerhalb interaktiver und interkommunikativer Umgebungen entwickeln. X Characters… ist ein Projekt zwischen Research und Praxis, das zeigt, dass die Charakter-Ikonen modernistischer Formen des Kinos Scharniere zu einer kritischen feministischen Praxis darstellen können. Das reicht von einer Diskussion über Autorinnen und autor-lose Welten bis zur Untersuchung feministischer Diskurse zum Kino und dessen Repräsentationsformen. Diese Grundlagen orientieren das Projekt als eines, das zwischen dem filmischen Feld, der Sprache und Fragen der Identität angeordnet ist.

Der Prozess von X Characters… operiert mit Charakteren, deren besondere Auffälligkeit in ihrem kommunikativen Unvermögen besteht, das ihnen zuallererst vom ursprünglichen Autor der Geschichte eingeschrieben wurde. Das neue Script, das X Characters… versucht zu entwerfen, konvertiert diese Schablonen in Projektionsflächen, in Passagen für unterschiedliche Formen des Begehrens, in ein Switchboard, das Sets kommunikativer Signale umleitet, umschreibt und transfiguriert.



 

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