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Missing Link

19 / 04 / - 28 / 06 / 2002
Ausstellung / Diskussion

Überblick und Dokumentation der Arbeiten
der Wiener Arbeitsgemeinschaft “Missing Link” (1970-80)

Via Nostalgia - Essay



Alle Abbildungen aus der Broschüre: Via Nostalgia. Missing Link 1972/73

Arbeitsbericht Projekte 1970 – 72
Karl 365 (1971)
16. November: Eine Utopie in neun wirklichen Bildern (1972)
Treffen auf dem Feld (1972)
Via Nostalgia: Straßenarbeit (1972/73)
STtilleben Weltatrappe (1972/73)
Die andere Seite (1973)
Die verstoßene Stadt (1974)
Asyleum – Großes Hutobjekt (1976)
Via Trivialis Fünf Aspekte zur Straße
Wiener Studien
Comments in Architecture (1980)

Reviews

"Die Straße ist eine Bewegungsmaschine, eine Fabrik, deren Ausrüstung garantieren muß, daß man sich darauf bewegen kann." Le Corbusier

Die Geschichte der Stadt ist die Geschichte des Gegensatzes von Kommen und Gehen, ist die Geschichte der ständigen Zergliederung und Teilung von Produktion-Beförderung-Angebot-Umsatz-Abfall, ist ununterbrochen Aufsplitterung und Verdichtung von Zuleitung und Ableitung, von Versorgung und Abfuhr.

Die städtebaulichen Theorien der letzten Jahrzehnte pendelten in ihrer Auffassung des Verhältnisses von Transport-Versorgung zu Wohnen-Unterhalt zwischen zwei extremen Punkten: Stadt als vertikale Verdichtung mit großer Autonomie (Wohnmaschine) Stadttürme punktweise in einer Parklandschaft verstreut, die verbunden und versorgt sind durch funktionell abgegliederte Verkehrsbänder und Pipelines (Corbusier, Niemeyer... ).
Auf der anderen Seite Stadt als Superstruktur, als beweglicher und beliebig über der Landschaft oder alten Städten addierbarer Raster, der Energie, Versorgung usw. netzartig überall hin verteilt. Der Transport von Gütern erfolgt automatisch, Information und Konsum sind im dichten Rasternetz gleichmäßig verfügbar, die Bewegung der Individuen wird überflüssig (Friedman ...).

Im Vergleich zum gegenwärtigen Erscheinungsbild der Städte zeigte die zweite Theorie bislang keine greifbaren Auswirkungen, nicht zuletzt deshalb, weil ihrer Verwirklichung eine Veränderung der ökonomischen und sozialen Grundlagen der Gesellschaft vorausgehen müßte. Corbusiers Ideen hingegen entstanden im Zeitalter des Ford T, waren für die industriell-politisch verknüpfte Bau- und Planungspraxis wesentlich besser handhabbar und fanden in abgewandelter, vielfach auch mißverstandener und vereinfachter Form Eingang in das Repertoire von Planern und Bauträgern. Die einfache mechanistische Zerlegung der Prozesse und deren klar überschaubar geordnete Staffelung sollte die konfliktfreie Abwicklung menschlichen Zusammenlebens gewährleisten ("Die strahlende Stadt"). Der Begriff der Trennung der Verkehrsebenen lieferte zur rechten Zeit die Methode für die umkehrbar eindeutige Zuordnung Auto-Straße. Die Straße als verlängertes Fließband und Transportfläche für Produkte der Automobil- und Folgeindustrien (Asphalt und Benzin werden aus demselben Rohstoff durch dasselbe Verfahren erzeugt... ) ist tatsächlich Fabrik, den Stechuhren entsprechen die Mautstellen, die Bewegung auf vier Rädern wird zum eigentlich wichtigen Produktionsvorgang. Dem entsprechend ist die optische Ausrüstung der Verkehrsflächen (Werbetafeln, Leuchtschriften.. in Dimension und Zeichenhaftigkeit exakt auf das Erlebnisbild des Autofahrers abgestimmt: Geschwindigkeit rhythmisiert durch Signale. Stadterlebnis ist gleich Autoerlebnis, am augenfälligsten bei Nacht. Im Extremfall macht erst die zusätzliche vertikale Bewegung und die größere Geschwindigkeit des Hubschraubers Stadträume voll erlebbar (vgl. die Szenen in Filmen wie "Brutale Stadt", „Dirty Harry", ... ).

Eine nähere Betrachtung würde Aufschluß darüber geben, wieweit sich der Film diese Tatsachen zunutze macht und Flüge oder Autofahrten (siehe "Wilde Erdbeeren", "Bullitt“, "French Connection“) als Erlebnisrahmen beziehungsweise Erlebnisinhalt selbst einsetzt. Hier mag der Hinweis auf diese Phänomene genügen. Der zunehmende Wunsch (vor allem der Theoretiker) nach verkehrsfreien Flächen und "Fußgeherzonen" gibt in diesem Zusammenhang genügend Kontrast und Begründung für eine Erläuterung der Entwicklung und Verknüpfung von Gehen-Kommen-Straße-Stadt-Wahrnehmung-Erlebnis.

Die vertikale Straße: Die Dimension der Straße wird heute gewöhnlich unterschätzt. Straße ist nicht mehr der flächig zweidimensional sich erstreckende Bewegungsraum zwischen den Häusern der von Architekten sowohl geschätzten und oft zitierten mittelalterlichen Stadt, obwohl gerade die einheitlich feste und gerade Asphaltoberfläche dieses Verständnis bestärken könnte. Ihre Entwicklung und Gestaltung fächerte gerade die rein technischen Funktionen aus einer Fläche ehemals simultaner Vorgänge in einen vertikalen Aufriß auf. Die Infrastruktur wanderte in die Tiefe (Kanal, Gas, Wasser, Rohrpost, Telefon..) oder in die Höhe (Licht, Elektrizität..) und tritt an der Oberfläche selbst nur mehr punktweise in Erscheinung (Kanalgitter, Hydrant, Gas- und Wasserzeichen, Papierkörbe, Beleuchtungskörper..). In den Innenstädten fährt die Müllabfuhr am frühen Morgen, um später den Geschäftsverkehr nicht zu behindern oder selbst behindert zu werden, - es wohnen und schlafen in den Zentren auch ohnehin nicht mehr so viele, die im Morgenschlaf gestört würden - , in die Außenbezirke kommt sie dann später, wenn die Hausfrauen zum Einkaufen unterwegs sind.

Der Großteil der Strukturen, die die Umwelt entscheidend bestimmen, ist also unsichtbar, beziehungsweise nur verschlüsselt sichtbar, was umgekehrt wieder einen Dimensionsverlust darstellt, ihre Wirkung ist dennoch total und unübersehbar. Infrastruktur, das ist zum Großteil die auf die geschilderte Weise den Straßen zugeordnete Ausrüstung, ist als Bereich öffentlicher Kompetenz und Leistung ein Mittel der Gesellschaftspolitik und eine Ware, die sich verkaufen läßt. Sie ist eingebunden in die Gesetzmäßigkeiten von Angebot und Nachfrage und solcherart politisches wie monetäres Spekulationsobjekt, solange keine Änderung des gegenwärtigen Bodenrechts eintritt (1). Nicht zuletzt sind es gerade diese Strukturen, die eigentlich Architektur-Stadt ausmachen (und nicht Fassaden, Bauvolumen), was Karl Kraus treffend meinte, wenn er sagte- "Ich brauche von einer Stadt nichts weiter als Asphalt, Straßenspülung, Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung - aber gewiß keine Gemütlichkeit...". Genau diese "hardware", das nach wie vor unattraktive öffentliche Service, ist als eine wesentliche Komponente sozialen Besitzes anzusehen.

Jane Jacobs meint, "Straßen und Gehsteige sind die wichtigsten öffentlichen Orte der Stadt." Freilich ist anderseits die Skepsis, wieweit Öffentlichkeit überhaupt noch an Orte gebunden ist, nicht von der Hand zu weisen. "Das Großstadtgebiet", also vor allem Straßen und Plätze, "ist für das Telefon, das Radio und das Fernsehen in gleicher Weise beziehungslos“ ( Mc Luhan). Als Folgeerscheinung dieser Medienentwicklung nahm die Zahl der Treffpunkte auf und an der Straße ab, verloren die Straße und die ihr anliegenden öffentlichen und halböffentlichen Flächen ihre parainstitutionellen Funktionen im Stadtleben. Zwar wird niemand heute ernsthaft den "Verlust der Agora“ beklagen, doch häufen sich die Nachrufe und Trauerreden zum Niedergang des Kaffeehauslebens - sicherlich nicht zu Unrecht. Entwickelte Massenmedien verlagern Ort und Weise der gesellschaftlichen Identifikation des Einzelnen. Verstrickt in anachronistische Strukturen von Macht -, Informations- und Konsumpolitik erzeugen sie ein fiktives Bild der gesellschaftlichen Wirklichkeit, das, ständig und ohne zeitliche Verzögerung dargestellt, die Einzelnen ihrer (ebenso fiktiven) Teilnahme, ihres Einflußes und ihrer Identität an und in der Realität versichert. Das ist nicht als Kritik der Medien an sich zu verstehen, sondern ein Hinweis darauf wie die verschiedene Geschwindigkeit der Entwicklungen, wie ein Nebeneinander von alten und neuen Strukturen ( auch aus Anachronismen kann man noch lange Profit ziehen) die Veränderung gesellschaftlicher Wirkungsweisen beeinflußt. Rein technologisch gesehen sind Straßen heute ein Anachronismus. Wäre damit wieder die theoretische Basis für einen städtebaulichen Ansatz à la Friedman gegeben?

Die sentimentale Straße: James Joyce‘s "Ulysses" gibt eine minutiöse Beschreibung der Stadtstraße und der ihr zugeordneten möglichen Erlebnis- und Verhaltensvorgänge. Leopold Bloom, Anzeigenvertreter einer Tageszeitung, bewegt sich einen Tag lang durch Dublin, er benützt die Straße (Stadt), das gesamte Angebot, das sie den Sinnen bietet, und wird selbst benützt. Analysieren wir eine kurze Szene (2): Bloom ist morgens auf dem Weg zur Fleischerei (räumliches Fernziel verbunden mit Zweck - Einkauf), er ist zu Fuß, wie auch sonst meist - 19o4!

ER KAM IN DIE NÄ.HE VON LARRY O’ROURKE‘S GESCHÄFT. Nahziel auf dem Weg zum Fernziel, Bloom kennt das Lokal und auch den Besitzer. AUS DEM KELLERGITTER KLANG SCHLABBRIGES PORTERGEPLÄTSCHER. Akustischer Reiz aus der Tiefe der Straße, am Geruch (der hier nicht erwähnt ist) und an der Bewegungsart der Substanz ist das Bier kenntlich. DURCH DIE OFFENE TÜR SPRITZTE DIE BAR ALLERLEI DÜFTE. INGWER, TEESTAUB, BISKUITBREI. Geruchsreize aus der Seite der Straße, im Zusammenhang mit der Nutzung (Bar) identifizierbar. ABER DOCH EIN GUTES HAUS: GERADE AM ENDE DES STADTVERKEHRS. Blooms Reaktion auf die Reize, ihr Erkennen, Einordnen und Bestätigung der Erwartung und Erinnerung nimmt assoziativ eine weitere Bestätigung auf: seine wirtschaftliche Einschätzung des Lokals. M.'AULEYS KNEIPE Z.B. DA UNTEN: K.G.LAGE. Bloom vollzieht gedanklich im Vergleich eine Stellungnahme, die er auch "offiziell" (sprachlich) vertreten könnte. Bezeichnenderweise denkt er in „Berufskategorien“: k.g. (keine gute) Lage ist ein Anzeigenkürzel. JA, WÜRDE EINE TRAMBAHNLINIE AM NORDCIRCULAR ENTLANG VOM VIEHMARKT BIS AN DIE KAIS GEBAUT, STIEG DER WERT GLEICH GEWALTIG.
Begründung und Interpretation, gleichzeitig eine aufschlußreiche städtebauliche Stellungnahme: verbesserte Infrastruktur = bessere Nutzungsmöglichkeit = größere Nachfrage = Bodenpreis steigt (siehe (1)). KAHLKOPF ÜBER DER BLENDE. Die Assoziation wechselt von der Sache zur Person - des Lokaleigentümers - in Form und begleitet von einer optischen Erinnerung, VERSCHMITZTER ALTER GEIZHALS, die einer sensitiven, persönlichen Erfahrung zugeordnet ist. GANZ ZWECKLOS, DEN WEGEN EINER ANNOUNCE RANZUKRIEGEN. VERSTEHT SEIN GESCHÄFT VORZÜGLICH. Die Denklinie kehrt nach Einschätzung in Bezug auf Blooms Person (Announce) und die Person O‘Rourkes selbst zum Ausgang zurück (..aber doch ein gutes Haus). DA STEHT ER JA, DER ALTE SCHLAUE LARRY - Bloom sieht ihn jetzt und registriert es - IN HEMDSÄRMELN, AN DIE ZUCKERKISTE GELEHNT UND BEOBACHTET meint Bloom, er schließt von äußerer Haltung auf inneres Tun DEN GEHILFEN MIT DER SCHÜRZE, eine weitere Person, nicht näher definiert, WIE ER MIT EIMER UND AUFNEHMER REINE MACHT. SIMON DAEDALUS MACHT IHN GENAU NACH MIT SEINEN ZUSAMMENGEKNIFFENEN AUGEN. Erinnerung, projiziert durch und auf die Situation, Verhalten eines Dritten, der beiden bekannt aber nicht anwesend ist, das O‘Rourkes allgemeines und auch im Moment mögliches Verhalten im Detail nachahmt und dadurch definiert. WSSEN SIE, WAS ICH IHNEN ERZÄHLEN WILL? WAS DENN, HERR O‘ROURKE? WISSEN SIE WAS? DIE RUSSEN WÄREN FÜR DIE JAPANER NUR EIN HAPPEN. Bloom erinnert ein Gespräch und überträgt es mit Frage und Antwort in die Gegenwart.

WILL STEHENBLEIBEN UND WAS SAGEN. Nachdem das Gespräch gedanklich schon begonnen ist und Bloom auch immer näher kommt, tritt der Wunsch (die Verpflichtung) zum Gespräch konkret auf. VIELLEICHT UBER DIE BEERDIGUNG. Bloom sucht einen geziemenden Anlaß, die Situation ist nicht so wichtig, er geht ja eigentlich einkaufen. ES IST DOCH JAMMERSCHADE UM DEN ARMEN DIGNAM, HERR O'ROURKE. Bloom probiert gedanklich einen neutralen Satz, eine vierte, beiden bekannte Person, ein geziemender Anlaß, dem Interesse zugewendet werden kann, der eine Ansprache rechtfertigt. ALS ER IN DIE DORSETSTREET EINBOG, GRÜSSTE ER ZUR TÜR HINÜBER UND SAGTE FRISCH: frisch, weil er gedanklich seine Beziehung zur Person und zur Situation überprüft und bestätigt hat, weil er für den Fall ein geeignetes Thema sicher zur Verfügung hat (auch wenn es etwas so Unerfreuliches wie eine Beerdigung ist). "GUTEN TAG HERR O’ROURKE“. "GUTEN TAG". "HERRLICHES WETTER, was?" "KANN ES SICH NICHT BESSER WUNSCHEN'“ So konkretisiert sich dieser Erlebnis- und Verhaltensvorgang in der freundlichen Variante der obligaten Grußformel, die beide in der angenehmen Stimmung einer in richtiger Weise vollzogenen Begegnung beläßt. Die im gedanklichen Vorwegnehmen vielschichtig durchgespielte und erfaßte Situation entlädt ihre Spannung im ganz banalen Klischee. Im Weitergehen kann sich dann Bloom erleichtert - er hat ja gegrüßt und ist gegrüßt worden - noch kritisch mit O‘Rourke auseinandersetzen, bis ihn die nahe Fleischerei wieder davon ablenkt.

An diesem relativ willkürlich gewählten Ausschnitt läßt sich ganz deutlich das typische Erlebnisprofil des Fußgängers in der Stadt ablesen: die Bewegung, das Gehen ist der vorgelegte Rhythmus. Reize in jeder Form nähern sich, werden wahrgenommen, assoziativ verkettet, bestätigt und wieder auf die Wahrnehmung projiziert. Identifikation und Kontakt vollzieht sich ununterbrochen an der Reibfläche von anlaßgemäßem Normverhalten - Klischee und freier Assoziation - Erinnerung und Vorstellung. Das Beispiel ist insofern atypisch für die gegenwärtige Stadt beziehungsweise Großstadt, als Leopold Bloom völlig integrierter Teil eines Milieus ist, das durch die Art seines Aufbaus und Zusammenhangs in jeder Schicht und von jedem Punkt des Ganzen abgelesen und identifiziert werden kann. Straße - Quartier - Stadt deckt sich im Erlebnisraum und Rahmen für zwischenmenschliches Verhalten in der Öffentlichkeit.

Erving Goffman erklärt eine ähnliche Szene folgendermaßen: "Kommt es zu solcher Höflichkeit zwischen zwei Passanten auf der Straße, kann höfliche Gleichgültigkeit in der besonderen Form walten, daß man den anderen ins Auge faßt, bis er sich auf etwa drei Meter genähert hat - in dieser Zeit werden die Seiten des Gehsteigs durch Gebärden aufgeteilt -, dann, während der andere vorbeigeht, schlägt man die Augen nieder, man blendet quasi ab." Das ist eines der vielen speziell für die Großstadtstraße und die Begegnung einander fremder Menschen entwickelte interpersonellen Rituale, die als gesellschaftliche Übereinkunft bestehen. Jane Jacobs nennt als Bedingung für eine funktionierende Straße, daß "..ein Bürgersteig ziemlich durchgehende Benutzer haben muß, sowohl um die Menge beobachtender Augen auf der Straße zu erhöhen, als auch um genügend Menschen in den Häusern darüber anzuregen, auf die Straße zu sehen." (4) Die dieser Formulierung zugrunde liegenden Mechanismen sind am Spezialfall hinreichend beschrieben: "Jemand, der auf direkte oder indirekte 'Weise beobachtet wird und die Vermutung hegt, er werde beobachtet, wird sein Verhalten weitgehend modifizieren, auch wenn er die Identität des Publikums, das ihn möglicherweise beobachtet, gar nicht kennt." (5) So gesehen ist die Straße (Gehsteig) ein (wenn nicht das wichtigste) Medium der ständigen öffentlichen Überprüfung und Herstellung gesellschaftlicher Übereinkunft durch Vollzug der in diese eingebundenen Verhaltensformen.

Die scheinbar ungeordnete Flut von Wahrnehmungen und Erlebnissen im Straßenraum unterliegt also ganz bestimmten Gesetzlichkeiten, Regeln, die aber, indem sie elementare Abläufe (Begegnung, Erkennen, Gruß... ) stereotyp kanalisieren, ihrerseits wieder Wahrnehmungs- und Reflexionsenergie freimachen. Leopold Bloom kann völlig gesittet durch die Straßen schlendern, den Anschein großer Geschäftigkeit erwecken, Bekannte grüßend auf den Verkehr achten und dennoch frei vor sich hinträumen.
Ein anderes Beispiel für Straße als optisches Stimulans: "Er stand hinter einem der Fenster, sah durch den zartgrünen Filter der Gartenluft auf die bräunliche Straße und zählte mit der Uhr seit zehn Minuten die Autos, die Wagen, die Trambahnen ( ... ), er schätzte die Geschwindigkeiten, die Winkel, die lebendigen Kräfte vorüberbewegter Massen, die das Auge blitzschnell nach sich ziehen, festhalten, loslassen..." (6)

Demgegenüber steht die Meinung vom fremden, grauen, feindlichen Niemandsland, das Gassenjungen, Straßenköter, Promenadenmischungen und Proletariat hervorbringt und beherbergt. Man faßt die Kinder fester an der Hand, damit sie nicht auch einmal im Rinnstein landen. Aber straft nicht unsere eigene Erfahrung diese Ansicht Lügen? "Es gibt da gewisse Häuserwände, auf die wir als Kinder unsere Lebensweisheiten gekritzelt haben,"Otto ist ein Idiot" und "Pepi liebt Trude". Die Straßen zur Schule: Vor Schul-arbeiten haben wir dort nach Schicksalszeichen ausgespäht. Gelang es uns, auf bestimmte Teile des Pflasters nicht den Fuß zu setzen, dann mußte die Schularbeit günstig ausfallen." (7) Auf dem Weg zur und von der Schule entstand jene Nahaufnahme der Umwelt, in der Quantität, Dimension und Engagement sich deckten, vollzog sich das kindliche Primärerlebnis: jene "Via Nostalgia" (8), die auch W.Burroughs beschreibt: Ich ging durch das alte Viertel das jetzt ganz in der Nähe liegt der alte Biseby stand genau da wo das Hotel jetzt ist als Kind kam ich jeden Tag daran vorbei auf dem Weg zum Forest Park mit Bruder "Bu" und unserer englischen Gouvernante die immer zu mir sagte: -"Stelle keine Fragen und unterlasse Bemerkungen"-. (...) Sie verstehen. Ich streife also mit meiner Kamera umher und suche nach Resten von 192o - Silberpapierschnitzel im Wind - Sonnenlicht auf leeren Grundstücken ...“(9)

Die quantifizierbare Straße: Jeden von uns umgibt seine eigene Umwelt, die sich quantitativ oft sehr wesentlich von der des anderen ünterscheidet. Die Unterscheidung liegt in der Aufnahmebereitschaft und -fähigkeit, liegt in der Auswahl der Reize, deren Summe jeweils wieder ziemlich konstant ist. Vergleichen wir nur einen mäßigen Autolenker, der mit der Aufnahme und Verarbeitung der für seine Fortbewegung wichtigen Signale und Reaktionen völlig ausgelastet ist - und seinen Beifahrer, der zwar ebenfalls "mitfährt", der aber doch auch die vorbeifliegenden Werbetafeln etc. registriert. Je geübter der Fahrer, umso mehr kann er seine Aufmerksamkeit kontrolliert einsetzen, umso mehr Spielraum lassen seine Reflexe für andere Reize. Ein Paradebeispiel für verschiedene Umweltquantitäten sind der Bergführer und seine Touristen im Gebirge. Ähnliches läßt sich für Touristen in der Stadt sagen, oder vergleichen wir nur eine Hausfrau beim Einkauf, ein Kind auf dem Schulweg, Arbeiter und Pensionist usw. Wer kennt z.B. die "Verkehrszeichen" für die Fahrer von Straßenbahnen? Auch die verschiedene Geschwindigkeit ergibt Differenzierungen: Der Erlebnisbereich ist bei 5o oder 8o km/h, am vorderen Fenster im Stock eines Stockautobusses ganz anders als bei 4 km/h am Trottoir. Der assoziative Freiraum scheint für den Fußgänger am größten zu sein, da seine Fortbewegung und Orientierung am wenigsten Energie bindet. Doch auch hier hat eine Angleichung an die Bewegungsintensität des Autoverkehrs Beschleunigungen und spezifische Reaktion hervorgerufen. Vergegenwärtigen wir uns nur die Fähigkeit, die Geschwindigkeit eines links herannahenden Autos mit der eigenen Schnelligkeit abzuschätzen und zu vergleichen, zwanzig Meter vor einem 5o km/h fahrenden Fahrzeug die Straße zu überqueren, in der Mitte stehenzubleiben und rechts denselben Vorgang mit einem kurzen Blick zu erfassen! In den verkehrsreichen Innenstädten gehen die Leute (auch alte) schneller als in den Außenbezirken, auch ist dort viel weniger Spucke am Gehsteig, was vielleicht in anderen Umgangsformen seinen Grund hat, oder aber im Streß der schnelleren Geschwindigkeit und Dichte, der ein "müßiges" Ausspucken nicht gestattet.

Robert Musil gibt ein Bild der "modernen Großstadt": "Luft und Erde bilden einen Ameisenbau, von den Stockwerken der Verkehrsstraßen durchzogen. Luftzüge, Erdzüge, Untererdzüge, Rohrpostmenschensendungen, Kraftwagenketten rasen horizontal, Schnellaufzüge pumpen vertikal Menschenmassen von einer Verkehrsebene in die andere, man springt an den Knotenpunkten von einem Bewegungsapparat in den anderen, wird von deren Rhythmus, der zwischen zwei losdonnernden Geschwindigkeiten in eine Synkope, eine Pause, eine kleine Kluft von zwanzig Sekunden macht, ohne Überlegung angesaugt und hineingerissen, spricht hastig in den Intervallen dieses allgemeinen Rhythmus miteinander ein paar Worte. Fragen und Antworten klinken ineinander wie Maschinenglieder, jeder Mensch hat nur ganz bestimmte Aufgaben, die Berufe sind an bestimmten Orten in Gruppen zusammengezogen, man ißt während der Bewegung, wieder anderswo stehen die Türme, wo man Frau, Familie, Grammophon und Seele findet.“ (10) Zweifellos zeigt diese Beschreibung eines mechanistischen Stadtgefüges einige Punkte recht deutlich. Die Folge einer entwickelten Arbeitsteilung ist der ungeheure Bewegungsaufwand. Straße in all ihren Aufsplitterungen ist reines Medium dieser Bewegung, nur Verkehrsfläche.
"In der modernen Stadt kann man nur zirkulieren zwischen Arbeitsplatz und Wohnzelle, zwischen Muff und Puff". (11)

Die Existenz elektronischer Medien führt einerseits diesen Verkehrsspektakel ad absurdum, das entwickelte Kommunikationssystem macht anderseits die Straße als Informationsmedium überflüssig. Zwar "spricht" die Straße recht augenfällig in Reklameschriften und Plakatwänden, doch braucht man nur die Kosten z.B. einer Plakatierungsaktion mit den Kosten einer Minute (Sekunde) Werbefernsehen zu vergleichen, um die wahre Effizienz zu begreifen. Was bleibt als Ausblick für diese unsere unwirtlichen, anachronistischen Straßen? Wiederherstellung in Form einer musealen, kulinarisch ausgerichteten Umweltoase? Vielleicht ist die grundsätzliche Einsicht, die auch Gehsteigmaler nicht mehr als unordentliche Störenfriede betrachtet, das bewußte Erfassen dieser Widersprüchlichkeit, die ja ein Widerspruch der Gesellschaft ist, ein Anfang, die Straße als legalen Aktionsraum, als Ort, Möglichkeit und Verpflichtung der Manipulation und Aufdeckung eben dieses Widerspruches zu handhaben.


Anmerkungen und Literaturhinweise:

(1) Die Errichtung bzw. Verbesserung öffentlicher Infrastruktur ergibt einen "Bodenwertzuwachs“ für die anliegenden Grundstücke. Allein die Umwidmung von Ackerland in Bauland im Zeitraum von 1961 - 71 erbrachte in der BRD den Bodenbesitzern einen "nicht leistungsbedingten Wertzuwachs von ca. 5o Milliarden Mark. Siehe "Der Spiege11124/71.
(2) James Joyce, "Ulysses", Band I, Zürich 1956, S.68
(3) Erving Goffman, "Verhalten in sozialen Situationen, Strukturen und Regeln der Interaktion im öffentlichen Raum“
(4) Jane Jacobs, "Tod und Leben großer amerikanischer Städte", Gütersloh 1963, S.32
(5) Siehe unter (3),8.27
(6) Robert Musil, "Der Mann ohne Eigenschaften", Hamburg 1952" S.12
(7) Aus "Wien - meine Stadt", Wien 1970, S.12
(8) Henry Miller, "Plexus", Hamburg 1955, S.165
(9) W. Burroughs, "Rückkehr nach St. Louis" in "Acid", Darmstadt 1969, S.57t58
(10) Siehe unter (6), S.31
(11) Hans G. Helme nach "Der Spiegel" 24/71

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